In Edward Albees Drama Who's
afraid of Virginia Woolf? spielen die Gastgeber George und Martha eine Reihe von
Psycho-Dramen mit ihren (oder: vor ihren) Gästen Nick und Honey. Eines dieser Spiele,
passend plaziert im dritten Akt namens "The Excorcism", lautet "bringing up
baby". Darin erzählen George und Martha von ihrem Sohn, der am nächsten Tag seinen
21. Geburtstag feiern soll. Wie schon die vorangehenden Spiele ("Humiliate the
Host", "Hump the Hostess" und "Get the Guests") endet auch dieses
in einer Katastrophe. Nachdem Martha die glückliche Geburt und die idyllische Kindheit
des Sohnes in leuchtendsten Farben geschildert hat, unterbrochen von Georges Einwürfen
über Kindesmißhandlung von ihrer Seite, kommt es zu einer unerwarteten und kathartischen
Klimax: Der Briefträger habe ein Telegramm gebracht, das vom plötzliche Tod ihres Sohnes
künde, berichtet George seiner Frau.
George: He is dead. Kyrie,
eleison. Christe, eleison. Kyrie, eleison.
Martha: You cannot. You may not decide these things.
Nick (leaning over her, tenderly): He hasn't decided anything, lady. It's
not his doing. He doesn't have the power ...
George: That's right, Martha; I'm not a God. I don't have the power over
life and death, do I?
Martha: YOU CAN'T KILL HIM! YOU CAN'T HAVE HIM DIE! (Albee 1962:136)
Nur langsam dämmert es Nick, daß
George in der Tat ein Gott ist, wenn auch ein Demiurg, der eine falsche, phantastische
Welt geschaffen hat. Denn der Sohn hat nie existiert; er ist ein Produkt der
Einbildungskraft von Martha und George, eine Simulation (1) im
Sinne Baudrillards, die im Bewußtsein ihrer Erfinder realer ist als die Realität selbst.
Der Sohn ist eine creatio ex nihilo, was die Bedeutung des Nichts als Folie für
virtuelle Welten in den Blick rückt: "Virtuell existieren Objekte, die nur in dem
Sinne existieren, daß man über sie redet" (Cherniavsky 1994:83). (2) In Edward Albees Stück wird eine virtuelle Realität im Rahmen einer
fiktionalen Welt verhandelt. Im folgenden soll es um die Frage gehen, inwiefern Kunstwerke
selbst als virtuelle Realitäten bezeichnet werden können und worin in spezifischen
Fällen der Vorzug des Begriffs der Virtualität gegenüber dem der Fiktion liegt. Diese
spezifischen Fälle sind, wie ich später zeigen werde, künstlerische Weltentwürfe, die
sich jenseits der Grenzen des Fiktiven bewegen, indem sie vom Text (oder Bild) in die
Wirklichkeit hineingreifen, Werkgrenzen überschreiten und das Leben zur Kunst machen.
Doch zunächst sollen die Merkmale einer virtuellen Realität an dem Beispiel von George
und Marthas imaginiertem Sohn herausgefiltert werden. Albees Entwurf eines nicht existierenden Sohnes
weist wesentliche Kennzeichen dessen auf, was sich - tentativ - als eine virtuelle
Realität bezeichnen läßt: Der Begriff des Virtuellen ist, im Rückgriff auf
Leibniz' "mögliche Welten", anzuordnen in einem Begriffsfeld, das
"virtuell", "aktual", "möglich" und "real"
umfaßt. Deleuze stellt in seiner Leibniz-Studie das Begriffspaar virtuell und aktual
gegen möglich und real, wobei er ersteres auf die Monaden bezieht, letzteres auf die
Körper. (3) Dieses Begriffsraster lenkt die
Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen der Virtualität und dem Körper: Virtuelle
Welten sind, im Gegensatz zu möglichen, vom Körper befreit. Erfordert ein Rollenspiel in
einer möglichen / realen Welt einen bestimmten Habitus (Gesten, Kleidung, Masken), so
kommt es in der virtuellen Welt ohne diesen aus; die virtuelle Rolle läuft im Bereich des
Imaginären ab. Das gilt für Fantasy Spiele ebenso wie für George und Marthas
Elternrollen. Der Schmerz, den Martha beim Tod ihres virtuellen Sohnes empfindet, läßt
sich mit Deleuzes Beispiel des Sündenfalls vergleichen: "die Seele Adams sündigt
aktual (Zweckursachen folgend), und zugleich nimmt sein Körper den Apfel real auf
(Wirkursachen folgend). Meine Seele empfindet einen aktualen Schmerz, mein Körper erhält
einen realen Schlag" (Deleuze 1990:171). Marthas Trauer ist zunächst aktual, da sie
sich im Bereich des Imaginären abspielt. Indem sie jedoch die Spielregeln verletzt,
virtuelle und reale Welt vermischt, erlangt auch ihre Trauer den Index des Realen, oder
genauer: sie wird hyperreal im Sinne Baudrillards, d.h. Realität und Simulacrum sind
ununterscheidbar; die virutelle Welt ist realer als die wirkliche. Damit zieht die
Erzeugung der virtuellen Welt ein Rollenspiel nach sich, das frei ist von körperlichen
Beschaffenheiten: Die virtuelle Welt ermöglicht es ihren 'Bewohnern', die
zugleich ihre Erzeuger sind, den Körper zu verlassen; aus dem unfruchtbaren Ehepaar
George und Martha wird das fruchtbare, (virtuelle) Wirklichkeit erzeugende Elternpaar. (4) Damit schafft Deleuze die Voraussetzung für einen
paradoxen Begriff wie den der "virtuellen Realität". Trennt er die
Begriffspaare virtuell / aktual und möglich / real in seiner Leibniz-Studie fein
säuberlich voneinander, so zwingt der Begriff der "virtuellen Realität" die
Oppositionen Monade (Seele) / Körper, virtuell / möglich, aktual / real in einer
oxymoralen Kreuzfigur zusammen. (5) Dieser Rückgriff auf
die Rhetorik erlaubt es, die der virtuellen Realität inhärente Spannung auszuweisen.
Eine virtuelle Realität ist der Ort, wo der Körper verlassen werden kann, ohne daß die
Welt der Sinne aufgegeben werden muß. (6) Wenn die
postmodernen Medien-Utopisten, die eine Auslöschung des Gegensatzes virtuell / real bzw.
Wirklichkeit / Fiktion behaupten (Baudrillard, Flusser)(7),
versuchen, diese Grenze zu überschreiten, so denken sie im oxymoralen Begriff der
virtuellen Realität das zusammen, was Leibniz/Deleuze (zunächst) trennen, was in dem
"Körper der Monade" jedoch wieder zusammenläuft: das Virtuelle / Aktuale und
das Mögliche / Reale. Virtuelle Realitäten lassen Gegensätze in einem Punkt
aufeinandertreffen, ohne diese ganz darin aufgehen zu lassen, wobei der utopische
Fluchtpunkt der Medientheoretiker dahin geht, diesem oxymoralen Doppelzeichen seine
Spannung zu entziehen, die Differenz zwischen Virtuellem und Realem vergessen zu lassen. (8) Baudrillards Hyperreales, in dem das "Reale und das
Imaginäre zu einer gemeinsamen operationalen Totalität verschmolzen" (1991:118)
sind, impliziert eine "minimale[...] Abweichung [...] zwischen zwei Termen"
(117), und eben diese minimale Abweichung markiert, so scheint mir, den Zusammenstoß von
virtuell und real, von "Körper" und "Seele" (Monade). Im imaginierten
und dennoch als real empfundenen Sohn von George und Martha treffen körperlicher (realer)
und seelischer (aktualer) Schmerz zusammen, wenn Martha sich an seine Kindheit erinnert
("Martha [laughing, to herself]: ... and how he broke his arm ... how funny it was
... oh, no, it hurt him!", Albee 1961:129). Nach diesem theoretischen Vorlauf stellt sich im
Kontext literarischer Texte die Frage nach dem interpretatorischen Gewinn, den der Begriff
der Virtualität gegenüber dem der Fiktion bringt, ist doch die fiktionale Welt, wie auch
die virtuelle, ein Ort der Grenzüberschreitung zwischen Realem und Imaginärem (Iser
1991). Es lassen sich zunächst drei Punkte formulieren, an denen virtuelle und fiktionale
Welten auseinanderlaufen. Der erste Unterschied betrifft die Fiktionssignale: Ist die
fiktive Welt markiert durch das "Als-Ob", durch Kennzeichen des Fingierens (Iser
1991:37), so ist der Übergang von einer realen zu einer simulierten / virtuellen Welt
unvermittelt und unmarkiert. George und Martha markieren ihren Sohn nicht als
imaginierten, vielmehr nimmt das Als-Ob für sie Wirklichkeitscharakter an; sie empfinden und
inszenieren (9) den Status des Als-Ob als realen - ohne
jedoch das Bewußtsein ganz aufzugeben, daß der Sohne eben doch nur virtuell real ist,
und hierin, so ließe sich behaupten, liegt der Unterschied zu simulierten Computerwelten,
die dieses oxymorale Moment ausschalten wollen. Der Standpunkt der Betrachterin legt die
Grenze zwischen den Polen fest, fixiert diese Grenze oder löst sie, wie im Fall des
Hyperrealen, auf. Zweitens sind virtuelle Welten in der Regel interaktive, kollektive
Schöpfungen, anders als fiktionale Welten, die meist einen Produzenten haben und gegen
jeden Eingriff von außen geschützt sind. (10) Und
drittens - und das ist vielleicht der wichtigste Unterschied - überschreiten virtuelle
Welten die Grenzen des künstlerischen Texts oder Werks; die außertextuelle Wirklichkeit
erscheint als zeichenhaft, erlangt auf diese Weise Kennzeichen eines Textes und
verlängert damit den Iserschen 'als-ob-Zustand' in diese Wirklichkeit, d.h. die
Grenzen zwischen dem Bereich des 'als-ob' und dem des 'Realen' werden
überschritten. Dieser Akt der Grenzüberschreitung läßt sich auch von seinem Gegenpol
her fassen: Dem Text oder Kunstwerk wird der Status des Realen verliehen. Ausgehend von
diesen drei Punkten – der Abwesenheit von Fiktionssignalen, dem interaktiven
Kollektivakt und der Überschreitung der Textgrenzen - möchte ich eine weitere These
formulieren: Der Beschreibungsbegriff des Virtuellen bietet sich an für künstlerische
Gattungen, die sich durch die Grenzüberschreitung zwischen 'Leben' und
'Text' auszeichnen und für die der Metaterminus des Fiktiven nicht mehr
ausreicht. An dieser Stelle läßt sich die Frage stellen, inwiefern das Virtuelle,
ähnlich dem Phantastischen, als "Alteritätsgenre" (Lachmann)(11) zum Fiktiven begriffen werden kann. Virtuelle
(prä-computerisierte) Kunst ließe sich als das Medium beschreiben, das die Grenzen des
Fiktiven überschreitet und damit Konstanten des künstlerischen Werks (Text / Autorschaft
/ Originalität) destabilisiert. Anhand zweier Beispiele aus der russischen
künstlerischen Praxis soll gezeigt werden, wie virtuelle Welten - unabhängig vom Medium
des Computers - in Schrift, Bild oder gesprochenem Wort (im Kunstwerk) entworfen und
ausagiert werden: am Beispiel einer literarischen Mystifikation Mitte des 19. Jahrhunderts
und am Beispiel der inszenierten Realität des "Gesamtkunstwerks Stalin"
(Groys), das eine schöne, gute und wahre, aber referenzlose Welt simuliert. (12)Diese zwei Varianten einer textüberschreitenden
Lebenskunst lassen sich als Vorläufer der simulierten Computerwelten deuten; sie führen
vor, daß eine virtuelle Realität keineswegs auf ein technisches Medium angewiesen ist,
um aus dem Nichts geschaffen zu werden. Die computerisierte Medienwelt ist eine Perfektion
dieser virtuellen Realitäten, nicht aber ihre Voraussetzung. Sind virtuelle Realitäten vor
dem Ende der Gutenberg-Galaxis erzählte Welten, die narrativ entfaltet werden, so
übersetzt das Computer-Medium die Erzählungen in digitale, sprachlose Bilder (13)und treibt wirklichkeitsgetreue Sinneswahrnehmungen
hervor, die den oxymoralen Charakter der virtuellen Realität in Vergessenheit geraten
lassen. 1. Die literarische Mystifikation (Koz'ma
Prutkov) 1856 beschreibt der wenig bekannte Autor Ivan
Cernokniznikov in seinen Aufzeichnungen eines Petersburger Touristen seine
Begegnung mit dem bekannten Autor Koz'ma Prutkov:
Aus dem Kreis der eleganten
Zuhörer trat mit unsicherem Schritt ein Mann mittlerer Größe, mit raffinierter Frisur
und einer Stirn, die finsterer war als die eines düsteren Kazbeken, mit einem Stück
schwarzen englischen Pflasters auf der linken Wange, mit der Haltung eines wahren
Dichters, mit unbegrenztem Wissen um die eigene Würde und Erhabenheit über die Menge.
Alles an dem Unbekannten zeugte von etwas Ungewöhnlichem, von Begabung und schien
irgendwie bekannt; wenn man ihn ansah, so konnte man ihn leicht als eine Figur erkennen,
die mit der frühen Romantik, mit ?ukovskij, in der Literatur auftauchte. Es war ein bekannter
Unbekannter.
- Sehe ich tatsächlich -, sagte ich, bereit, dem bekannten Unbekannten um den Hals zu
fallen, - sehe ich tatsächlich den Dichter Kuz'ma Prutkov vor mir, den Autor von
[...]
- Ich bin Kuz'ma Prutkov! - sagte der Herr mit der Stirn, die finsterer war als die
eines düsteren Kazbeken ... Der begabte Prutkov lud mich zu sich zu einem literarischen
Abend ein, der am Dienstag um 11 Uhr in der Früh stattfinden sollte [...] (zit. in
Desnickij 1953:6-7) (Die Übersetzungen sind, wenn nicht anders vermerkt, von mir)
Diese Begegnung wäre an sich nichts
Ungewöhnliches, wäre Koz'ma Prutkov nicht eine literarische Mystifikation, ein
Hirngespinst von vier 'realen' Autoren, ausgestattet mit einer Biographie, einem
Porträt und einem Werk, das Gedichte, Dramen und Epigramme umfaßt. Damit wird ein
fiktiver Autor als realer inszeniert, so daß er über den fiktionalen Rahmen hinausreicht
und den Status einer (virtuellen) Realität einnimmt. Dieser Prozeß einer virtuellen
Verleiblichung wird dadurch gestützt, daß die literarische Öffentlichkeit - wohl
wissend, daß es sich um eine Mystifikation handelt - an dieser virtuellen Welt teilhat
und in sie eingreift, so zum Beispiel im Fall des oben beschriebenen Treffens, das eine
Reihe von Zitaten aus Prutkovs Gedicht Moj portret / Mein Porträt(14) enthält. Und obwohl die 'echten' Autoren
streng darüber wachten, daß nur die von ihnen kanonisierten Werke 1884 in die
Gesamtausgabe aufgenommen wurden, erschienen doch in einem fort Texte von
"Koz'ma Prutkovs Enkel", "Koz'ma Prutkovs Sohn",
"Koz'ma Prutkov II" usw. Bis heute tragen die Monographien zu seinem Werk
Titel wie Koz'ma Prutkov und seine Freunde (Zukov 1976) oder Koz'ma
Prutkov. Direktor der Finanzbehörde und Dichter (Berkov 1933). Der imaginierte, aber
dennoch Kennzeichen des Realen (zum Beispiel das Porträt) tragende Autor ermöglicht den
'realen' Autoren ein Rollenspiel, das dem der virtuellen Computerwelten ganz
ähnlich ist: Ohne ihre eigene Körperlichkeit preisgeben zu müssen, projizieren sie sich
in ein alter ego hinein, an dessen nicht existentem Körper sie ihre Wünsche ausagieren
können. (15) Im Falle der literarischen
Mystifikation schiebt ein Autor oder ein Autorenkollektiv eine zusätzliche Ebene zwischen
Autor und Text ein, denn das Subjekt (der fiktive Autor) muß zum Objekt (dem Text)
dazuerfunden werden. Auf diese Weise geraten Original und Kopie, Urbild und Abbild,
Schöpfer und Schöpfung zu instabilen Größen; die Grenzen werden verschoben, und die
beiden Seiten der Oppositionspaare überlappen sich in der Teilmenge des
zwischengeschalteten Autor-Textes / Text-Autors.(16)
Indem die erfundene Figur als real ausgegeben wird, tritt sie über den Rahmen des
Fiktiven hinaus; Paratexte schaffen eine virtuelle Persönlichkeit aus dem Nichts und
entfalten diese narrativ in einer Biographie, einem Nekrolog und einem Porträt. Mit einem
Band, in dem Prutkov die Aufzeichnungen seines (virtuellen) Großvaters herausgibt,
schreibt er sich in eine Genealogie - mit biologischem Ursprung - ein; der Nekrolog ist
von einem (imaginierten) Neffen namens Kalistrat Ivanovi? ?erstobitov unterzeichnet und
führt die Familiengeschichte somit fort. Als fleischgewordene Fiktion erscheint Koz'ma
Prutkov als Kreuzfigur zwischen Autor und Text, zwischen Text und Welt. Dieser Austritt
aus der Ordnung des Fiktiven, die vom Als-Ob-Status reguliert und zwischen Realem und
Imaginärem in ihre Grenzen gewiesen ist, wird im Begriff der virtuellen Realität
aufgefangen. Die literarischen Institutionen (die Zeitschriften, die Verlage, die Theater)
lassen sich als Vorläufer einer computerisierten virtuellen Realität deuten; die
Teilhaber an diesen Institutionen entsprechen den Spielern der Computerwelten. 2. Das "Gesamtkunstwerk Stalin" [s. Anlage 1: Il'ja Kabokovs Bild Gastronom] Das Sujet dieses Bildes ist scheinbar recht
einfach [...] Es zeigt eine alltägliche Situation in einem typischen sowjetischen
Lebensmittelgeschäft der 70er Jahre, wo nicht die Vitrinen vor Lebensmitteln
"bersten", sondern das Geschäft selbst unter dem Ansturm der Leute birst, unter
der endlosen Schlange, die ansteht für etwas, das man nicht ansehen kann [...] Während
über das Vorhandensein von Lebensmitteln im Geschäft Unklarheit herrscht, befindet sich
an der Glastür eine mit weisser Farbe geschriebene vollständige Liste dessen, was in den
Vitrinen ist, genauer gesagt, was dort "sein sollte". Diese Liste verzeichnet
das "ständige Warensortiment", das es geben muss; derartige Listen, die
in keiner Weise der Realität entsprachen, hingen jahrelang an den Wänden der
Gastronom-Geschäfte [...] bei den eigenartigen weissen, leuchtenden Aufschriften, die von
oben nach unten gehen, sollten die Buchstaben den Eindruck strahlender Funken hervorrufen,
ein durchsichtiger Traum, durch den der graue Alltag zu sehen war. Beginnend mit den bei
uns berühmten Worten: "Heute und täglich im Angebot ..." werden die Bezeichnungen der Lebensmittel sowie
ihr Preis genannt, unterteilt in sechs Abschnitte: Feinkost, Milchprodukte, Fisch,
Genussmittel, Süsswaren, Gemüse. Unter dieser Liste befindet sich eine Aufzählung aller
möglichen Dienstleistungen, für die im Geschäft Anmeldungen entgegegenommen werden:
Verpackung, Lieferung ins Haus, diverse Beratungen, Ausrichtung privater Feiern ...
Ausserdem sind dort Adressen und Telefonnummern angegeben, bei denen man sich beschweren
kann, wenn dem Geschäft irgendwelche Fehler unterlaufen oder wenn in der Auslage Ware
fehlen ... Man kann annehmen, dass alle diese Worte, dieses "Programm", diese
Bezeichungen [...] die Realität nicht etwa überdecken, verdrängen, sondern selbst in
den Vordergrund des Bildes treten und sich an uns wenden wie die Träume und die
Trugbilder, die aus der Atmosphäre des überfüllten Gastronom im Bewusstsein der
in der regungslosen Schlange stehenden Leute geboren werden. (Kabakov 1995:94-95;
übers. v. D. Trottenberg) Il'ja Kabakovs Bild Gastronom und der
dazugehörige Kommentar lassen sich als Metatexte lesen über die virtuelle Welt des
Sozialistischen Realismus, der die Abbildung einer Wirklichkeit fordert, die (noch) nicht
ist. Der Begriff des Sozialistischen Realismus ist nicht minder oxymoral als der der
virtuellen Realität, denn der Zusatz "Sozialistisch" bringt in den Realismus
eine ideologische Dimension ein, die das Realistische ins Phantastische verkehrt:
"Die sozialistische Mimesis", so Boris Groys (1988:58), "ist [...] auf das
verdeckte Wesen der Dinge gerichtet, nicht auf ihre Erscheinung [...] Der Sozialistische
Realismus [...] orientiert sich an etwas, das noch nicht ist, aber geschaffen werden
soll." Sozrealismus schafft eine ideologische Wirklichkeit, die nicht von dem
ausgeht, was zu sehen ist, sondern von dem, was gesehen werden soll; der Sozialistische
Realismus ist eine Poetik des "Nichtseienden" (17)(Groys
1988:57). Kabakovs Bild führt das Paradoxon des Sozrealismus vor Augen, indem es die
Tafeln (metonymische Vertreter der abwesenden Lebensmittel) mit der Leere der Regale
konfrontiert. Die Doktrin der "Parteilichkeit" und der
"Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung" (Zdanov,
zit. in Gaßner / Gillen 1994:27) beschränkt die Inszenierung sozialistischer Zukunft
nicht auf die Kunstwerke, die eine nicht existente Wirklichkeit quasi-mimetisch abbilden
[s. Anlage 2 und 3], sondern verwandelt auch die totalitäre Gesellschaft selbst in ein
"Gesamtkunstwerk" (Groys). So schafft sie einen Musterfall virtueller Realität
- die Gesellschaft erscheint als interaktiv geschaffenes Kunstwerk, das das
"als-ob" Prinzip der Fiktionalität außer Kraft setzt und das nicht
Existierende als existent in der Kunst abbildet und im Alltag inszeniert. Ein Beispiel
für diese Inszenierung der lichten Zukunft im Alltag ist die Einführung des sog. subbotnik
(von subbota = Samstag). Der subbotnik ist ein auf einen Samstag gelegter
Feiertag, an dem die Menschen 'freiwillig' arbeiten, ein feierlicher Arbeitstag,
der in den 20er Jahren in Verbindung mit einem der Feiertage des "roten
Kalenders" (z.B. Revolutions- oder Maifeiertag) eingeführt wurde und sich bis zum
Ende der Sowjetzeit gehalten hat. Die Besonderheit des subbotnik liegt darin, daß
der Feiertag für die Arbeit (den Aufbau der Utopie) usurpiert wird, womit er das
Verhältnis von Feiertag und Alltag umkehrt: Der Feiertag schafft einen utopischen Raum,
der den kommenden sozialistischen Idealzustand vorgaukelt und ihn als schon erreichten in
Szene setzt. Indem der subbotnik den Alltag als ewig währendes Fest inszeniert,
hebelt er die Differenz zwischen Fest und Arbeit aus. Dem Maifeiertag 1920 gingen zwei subbotniki
voraus, Vor-Feiertage, die Arbeit und Fest zusammenfallen ließen. Der erste subbotnik
sah so aus, daß die Massen zu Orchestermusik den Garten des Winterpalais in Petersburg in
einer Zerstörungsaktion "aufräumten" (Piotrovskij 1926:74), der zweite,
grandiosere Akt, fand zeitgleich auf dem Marsfeld statt: 16.000 Menschen hatten sich
versammelt, um den Steinplatz in einen Garten zu verwandeln. Die Arbeit wurde von
Orchestern, Theateraufführungen und Dichterlesungen begleitet, der Platz war mit Flaggen
geschmückt (ebd.). Die Zerstörung des einen Gartens und den Aufbau des anderen waren
gleichermaßen fruchtlos, doch die Handlungen hatten, so Piotrovskij, einen "rein
symbolischen, schauspielhaften Charakter" (ebd.). Im subbotnik wird aus dem
Feiertag ein Tag der Arbeit, doch wird diese Arbeit als feiertägliche maskiert und zeigt
als solche den neuen Menschen der Zukunft in Aktion - den fröhlichen Arbeiter und Bauern
des "Gesamtkunstwerk Stalin". Der subbotnik, der die angestrebte Utopie
als erreichte simuliert, ist bildhaftes Beispiel für eine virtuelle Realität. Der
fröhlich arbeitende Mensch, dessen Alltag bestimmt ist von Bürgerkrieg und Hungersnot,
ist Sinnbild für eine Wirklichkeit, die nicht ist, eben eine virtuelle Realität. Damit
erfährt die avantgardistische Losung "Das Leben zur Kunst machen" im
Stalinismus ihre pointierteste Ausgestaltung. Im zeitlich versetzten Blick auf die als
"mimetisch" proklamierten Bilder fehlt der Vergleich mit der Wirklichkeit der
20er und 30er Jahre, so daß bei der heutigen Betrachterin der Eindruck entstehen könnte,
die 'reale' Wirklichkeit habe in der Tat so ausgesehen, wie die Bilder uns
glauben machen. Auf diese Weise gelingt es den Kunstwerken des Sozrealismus rückwirkend,
eine virtuelle Realität zu schaffen, ein Original zu simulieren, das es nie gab. Es ließen sich weitere Beispiele für Gattungen,
die sich jenseits der Grenzen des Fiktiven bewegen, die den Schnittpunkt zwischen dem
Realen und Imaginären in den Raum virtueller Realitäten verlagern. So die Gespräche der
russischen spätavantgardistischen Gruppe Cinari. Doch von diesen soll nur eine einzige
Aussage zitiert werden, die den Bogen spannt zu meinem Anfang, zu Leibniz: J[akov] S. [Druskin]: Man muß keine großen
Werke schreiben, das ist ein Vorurteil. Leibniz hat allem in allem zwei große Sachen
geschrieben, noch dazu zwei langweilige. Gerade wegen dieser Arbeiten nennt man ihn einen
Rationalisten, schreibt man über ihn in Lehrbüchern zur Philosophiegeschichte. Beide
Werke sind polemisch, das eine ist gegen Locke gerichtet, und das allein ist schon
komisch, wenn ein Mensch in seinem ganzen Leben zwei große Sachen schreibt, und beide
sind polemisch. Die echten Ideen, die genialen, finden sich in seinen kleinen Werken, die
zwei, vier Seiten lang sind. (Lipavskij 1993:33-34)
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