Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Nicht(s)tun
Träume als Ansturm gegen das nicht Getane?
Kerstin Gernig
ZUM NICHT(S)TUN IN ARTHUR SCHNITZLERS TRAUMNOVELLE
"Und kein Traum […] ist völlig Traum."
Abgrund des Schöpferischen
Die Formulierung nichts tun stellt eine contradictio in adjecto dar, insofern das Tun eine Handlung ist, dem das Nichts gerade als Negation gegenübersteht. Somit entspricht die Aussage, daß jemand nichts tun würde einer elliptischen Wendung, im Sinne von nichts bestimmtes tun oder nichts sinnvolles tun oder auch nichts absichtsvolles tun. Indem eine Handlung dergestalt ihrer Intentionalität beraubt wird, bedeutet nichts tun dem sensus communis entsprechend, zwar etwas zu tun, jedoch etwas, das weder bewußt, noch absichtsvoll geschieht. So vermittelt jemand, der geistesabwesend in die Gegend schaut, eher den Eindruck, nichtszu tun, als jemand, der das Geschehen um sich herum bewußt beobachtet. Jemand, der seine Gedanken ziehen läßt, hat wiederum eher den Eindruck, nichts zu tun, als jemand der nachdenkt. Während das Tun tendenziell eher mit aktiven Bewegungen wie gehen, schwimmen, tanzen, arbeiten oder auch nachdenken, beobachten, zuhören usw. assoziiert wird, wird das Nichtstun latent eher mit passiven Bewegungen wie sitzen, liegen oder stehen in Verbindung gebracht, obgleich auch die passiven Bewegungen bewußt ausgeführt, sich im Prinzip in aktive verwandeln können.
Dieses Moment des Bewußtseins im Zusammenhang mit dem Nichtstun ruft eine weitere Bedeutungsvariante auf. Bewußt nichts zu tun könnte nämlich auch bedeuten, bestimmte Handlungen absichtsvoll zu unterlassen. Diese Bedeutungsdimension wird aber erst vor dem Hintergrund erwarteter bzw. zu erwartender Handlungen aktiviert.
Im Gegensatz zu den bewußten Handlungen des Alltags ließen sich schlafen und das damit assoziierte Träumen vielleicht am ehesten als Nichtstun bezeichnen. Schlaf und Traum stehen dabei in einem dialektischen Verhältnis zum Wachsein und zum Tun.
Am Beispiel von Arthur Schnitzlers Traumnovelle wird im folgenden die skizzierte Doppelbedeutung des Nicht(s)tuns untersucht, also einerseits die Frage, in welchem Verhältnis Tun und Nichtstun im Kontext von Schlaf und Wachsein bzw. von Traum- und Alltagshandlungen stehen und andererseits die Frage, inwieweit das Nichttun im Sinne des Unterlassens erwarteter bzw. zu erwartender Handlungen ein konstitutives Element der Traumnovelle darstellt.
"Nichts weiter."
Kubricks Verfilmung Eyes Wide Shut hat im Jahr 1999 die Traumnovelle ins kollektive Gedächtnis der Cinephilen gerufen. Es geht in der Novelle um einen Konflikt des Ehepaares Fridolin und Albertine, der durch das Geständnis der erotischen Wünsche der Frau ausgelöst wird. Albertine — respektive Alice in der modernen Adaption durch Kubrick — gesteht ihrem Mann, daß sie einem Unbekannten gegenüber von leidenschaftlichen Gefühlen überwältigt worden ist. Obgleich dieser Unbekannte Albertine auf einer Hoteltreppe nur "flüchtig gemustert" [14] hatte und sich ihre Blicke nur kurz begegnet waren, glaubte sie sich bereit, sich ihm hinzugeben und zugleich alles für ihn hinzugeben (1). Auf dieses Geständnis hin fragt sie Fridolin respektive Bill nur trocken "Und?", woraufhin Albertine antwortet "Nichts weiter." [15] Dieses "nichts weiter" steht genau für das Nichttun dessen, was ihre Gedanken und Gefühle sich sehnlich wünschen. Damit ist das gegenseitige Geständnis von geheimen Wünschen, Sehnsüchten und Leidenschaften aber noch nicht beendet. Albertine erzählt ihrem Mann, daß es nur einem Zufall zu verdanken war, daß sie noch "jungfräulich" seine "Gattin" [18] geworden ist:
"'Es war am Wörthersee, ganz kurz vor unserer Verlobung, Fridolin, da stand an einem schönen Sommerabend ein sehr hübscher junger Mensch an meinem Fenster, das auf die große, weite Weise hinaussah, wir plauderten miteinander, und ich dachte im Laufe dieser Unterhaltung, ja höre nur, was ich dachte: Was ist das doch für ein lieber, entzückender, junger Mensch, — er müßte jetzt nur ein Wort sprechen, freilich, das richtige müßte es sein, so käme ich zu ihm hinaus auf diese Wiese und spazierte mit ihm, wohin es ihm beliebte, — in den Wald vielleicht; — oder schöner noch wäre es, wir führen im Kahn zusammen in den See hinaus — und er könnte von mir in dieser Nacht alles haben, was er nur verlangte. Ja, das dachte ich mir. — Aber er sprach das Wort nicht aus, der entzückende junge Mensch; er küßte nur zart meine Hand, — und am Morgen darauf fragte er mich — ob ich seine Frau werden wollte. Und ich sagte ja.' Fridolin ließ unmutig ihre Hand los. 'Und wenn an jenem Abend', sagte er dann, 'zufällig ein anderer an deinem Fenster gestanden hätte und ihm wäre das richtige Wort eingefallen […]." [18f]
Fridolin hat in jener Nacht nichts getan, außer ihr die Hand zu küssen, somit hat er gerade nicht getan, wonach sich Albertine bei der ersten Begegnung gesehnt hatte. Die unterlassene Verführung allein macht Albertine für ihre Jungfräulichkeit bei der Hochzeit verantwortlich. Nicht allein, daß die Ehe im ausgehenden 19. Jahrhundert als primäre Legitimation der Sexualität betrachtet wurde, sondern auch, daß Frauen des Bürgertums im Kontext männlicher Doppelmoral sexuelle Wünsche weitgehend abgesprochen wurden, läßt Albertines Geständnis zum Skandalon werden (2). Dieses Eingeständnis sexueller Wünsche trägt dazu bei, daß Fridolin sich selbst und seine Frau in neuem Licht betrachtet. Während Albertine jedoch nichts tut, indem sie weder ihre Wünsche als sechzehnjährige gegenüber ihrem zukünftigen Mann, noch als bereits Verheiratete mit dem Unbekannten im Hotel in die Tat umsetzt, geht Fridolin von Eifersucht auf die erotischen Wünsche und Phantasien seiner Frau getrieben, auf die Suche nach erotischen Abenteuern.
"Unsägliche Lust des Schauens."
Die Möglichkeit, nichts zu tun, wird von Fridolin kurz erwogen — "Wie wär's, dachte Fridolin, wenn ich gar nicht erst ausstiege – sondern lieber gleich zurückkehrte? […] Nein, ich kann nicht zurück, dachte er bei sich." [48f] —, um sogleich wieder verworfen zu werden. Fridolin folgt einem ehemaligen Studienkommilitonen namens Nachtigall — respektive Nightingale — auf eine geheime Veranstaltung einer geschlossenen Gesellschaft, wo es die herrlichsten nackten Frauen zu sehen geben soll. [40f] Nachtigall hatte ihm nicht zu viel versprochen:
"Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten; — und daß jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangen." [51]
Fridolin tut nichts, außer das Geschehen zu beobachten und dabei von Raum zu Raum zu gehen. Anstatt sich in das Liebesspiel der nackten Leiber hineinziehen zu lassen, bleibt er angekleidet und nimmt die Rolle des männlichen Voyeurs ein. Indem er dem sexuellen Verlangen widersteht, tut er nichts, ebenso wie seine Frau in den besagten Augenblicken nichts getan hatte. Ebenso wie Albertine alles hingegeben hätte, ist aber auch Fridolin bereit, alles auf's Spiel zu setzen: "Es kann nicht mehr auf dem Spiel stehen als mein Leben", sagt er, als er vor der Gefährlichkeit der Situation gewarnt wird zu der verführerischen Unbekannten, "und das bist du mir in diesem Augenblick wert." [53] Daß sowohl Albertine als auch Fridolin ihr sexuelles Verlangen nicht ausleben, hängt angesichts dieser unbedingten Bereitschaft, alles auf's Spiel zu setzen, jeweils mit den äußeren Umständen zusammen.
Geträumte Vergehen
Während Fridolin sich auf dem geheimnisumwobenen Maskenball umsieht, liegt Albertine im Schlaf. Schnitzler inszeniert parallel zueinander vergleichbare Erlebnisse, nur daß der eine sie in der Wirklichkeit erlebt und die andere sie träumt. Als Fridolin heimkehrt, weckt er seine Frau, die im Traum lacht und weint als wären die Trauminhalte real. Auf sein Drängen erzählt sie ihm ihren Traum. Sie träumte, daß sie in der Nacht vor der Hochzeit statt ihres Brautkleides opernhaft wirkende Kleider und orientalische Kostüme in ihrem Schrank fand. Parallel dazu hatte sich Fridolin beim Kostümverleiher sein Kostüm für den Maskenball ausgewählt. Während Fridolin in ihrem Traum von Galeerensklaven angerudert wird, fuhr ihn in seiner Wirklichkeit ein Taxifahrer zu der geschlossenen Gesellschaft. Während sie von ihrer Hochzeitsreise träumt, versucht er, das erste Mal in ihrer Ehe, sie zu betrügen. Das Entsetzliche besteht für beide in der Entblößung vor anderen. Während im Traum ihre Kleider plötzlich verschwunden sind, wird Fridolin auf der Gesellschaft als Außenseiter entlarvt und soll seine Maske ablegen, was ihm vor all den Maskenträgern schlimmer erscheint, als sich ohne Kleider zu zeigen. "Tausendmal schlimmer wäre es ihm erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht unter lauter Masken dazustehen, als plötzlich unter Angekleideten nackt." [56] Parallel dazu erfaßt Albertine dermaßen im Traum entkleidet "Entsetzen ohnegleichen" und "brennende Scham bis zu innerer Vernichtung". [68] Beide fühlen sich aber ohne den anderen zugleich befreit. So heißt es bei Albertine: "Und als du verschwunden warst, wurde mir ganz leicht zumut." [68] Und beide fühlen sich auch schöner und attraktiver als im "wirklichen" Leben ihrer Ehe. So dachte Fridolin, als sich eine unbekannte Frau auf dem Maskenball für ihn opferte: "Vielleicht gibt es Stunden, Nächte […] in denen solch ein seltsamer, unwiderstehlicher Zauber von Männern ausgeht, denen unter gewöhnlichen Umständen keine sonderliche Macht über das andere Geschlecht innewohnt." [60f] Die Gelöstheit erotischer Anziehung, die beide erleben, hat allerdings in beiden Fällen einen Preis. Im Traum wird der Mann geopfert, auf dem Maskenball hingegen opfert sich eine Unbekannte für Fridolin. Wie sich später herausstellt, war es eine Prostituierte, der er als Arzt einmal das Leben gerettet hatte. Beide sehen und erleben die Nacktheit anderer mit. Während Fridolin fasziniert den schönen nackten Frauenleibern beim Tanz mit den in Mönchskutten verkleideten Männern zusieht, erscheint Albertine ihr Mann im Traum nackt und gefesselt ebenso wie eine "unendliche Flut von Nacktheit, die [sie] umschäumte und von der [sie] und der Mann, der [sie] umschlungen hielt, gleichsam nur eine Welle" war. [70] Diese kollektive, orgiastische Nacktheit erlebte Fridolin als Zuschauer, ohne jedoch den entscheidenden Schritt aus seiner reinen Beobachterrolle hinauszugehen. Während die eigene Frau im Traum keinerlei Mitgefühl für ihren Mann hat, der ans Kreuz geschlagen werden soll, und in diesem dramatischen Augenblick nichts für ihn tut, opfert sich für Fridolin sogar eine ihm Unbekannte.
Beide haben einander in Gedanken betrogen, Albertine im Traum, Fridolin in einem unrealisierten Vorhaben erst bei einer Prostituierten und anschließend auf der geschlossenen Gesellschaft, in die er sich willentlich eingeschlichen hat. Nachdem Albertine dem von seinen nächtlichen Abenteuern Heimgekehrten ihren Traum erzählt hat, stellt sich die Frage, nach dem Stellenwert des jeweils in Wirklichkeit nicht Getanen, nämlich des begehrten bzw. geträumten Vergehens in Form des sexuellen Hintergehen des anderen. Fridolins "reale" Erlebnisse haben für ihn die Qualität eines Traumes, und er setzt seine Erlebnisse den Traumerlebnissen seiner Frau gleich:
"Je weiter sie in ihrer Erzählung fortgeschritten war, um so lächerlicher und nichtiger erschienen ihm seine eigenen Erlebnisse, so weit sie bisher gediehen waren, und er schwor sich zu, sie alle zu Ende zu erleben, sie ihr dann getreulich zu berichten und so Vergeltung zu üben an dieser Frau, die sich in ihrem Traum enthüllt hatte als die, die sie war, treulos, grausam und verräterisch, und die er in diesem Augenblick tiefer zu hassen glaubte, als er sie jemals geliebt hatte." [72f]
Der Traum erhält in der Beschreibung eine Erlebnisqualität, die qualitativ von Fridolin nicht mehr von den Erlebnissen im Wachsein unterschieden werden kann. Sein Verrat im Geiste stellt für ihn noch keine adäquate Rache dar, da seine Frau im Traum weitergegangen ist, als er jemals in der Wirklichkeit. Somit werden zwei Ebenen gegeneinander gehalten. Die Ebene der vita activa, d.h. mit anderen Worten die Ebene des Handelns und die Ebene des Traumes. In der vita activa waren beide zum Betrug bereit, wurden aber durch die Umstände daran gehindert. Während Albertine hingegen im Traum ihre sexuellen Wünsche zum Teil auslebt, versucht Fridolin in der Realität, sich an den Wünschen seiner Frau zu rächen, indem er einerseits einer Prostituierten folgt und sich andererseits in die geschlossene Gesellschaft einschleicht. Doch wird er wiederum in beiden Situationen daran gehindert, so weit zu gehen wie seine Frau im Traum. Die kompensatorische Dimension des Traumes bleibt Fridolin verschlossen. Da er gegen ihren Traum nichts tun kann, flüchtet er ins Nichtstun, nämlich "in Schlaf und Vergessen". [73]
Ausgelöst wird der eheliche Konflikt allein durch Worte, Worte, die geheime Wünsche offenlegen, derer Umsetzung es nicht bedarf, um eine narzißtische Kränkung zu provozieren, die wiederum zu Vergeltungs- und Rachegedanken führt. Der Gewalt des Wortes werden sich beide allerdings erst am Ende der Traumnovelle bewußt.
Bricht Fridolin zunächst auf, um sich an den eingestandenen sexuellen Phantasien seiner Frau zu rächen, beherrschen ihn weitere Rachegedanken, nachdem sie ihm ihren Traum erzählt hat:
"[…] eine Art von Doppelleben führen, zugleich der tüchtige, verläßliche, zukunftsreiche Arzt, der brave Gatte und Familienvater sein – und zugleich ein Wüstling, ein Verführer, ein Zyniker, der mit den Menschen, mit Männer und Frauen spielte, wie ihm just die Laune ankam – das erschien ihm in diesem Augenblick als etwas ganz Köstliches; – und das Köstlichste dran war, daß er später einmal, wenn Albertine sich schon längst in der Sicherheit eines ruhigen Ehe- und Familienliebens geborgen wähnte, ihr kühl lächelnd alle seine Sünden eingestehen wollte, um so Vergeltung zu üben für das, was sie ihm in einem Traume Bitteres und Schmachvolles angetan hatte." [84]
Doch Fridolin tut nichts von alledem. Stattdessen nimmt er sich vor, seiner Frau die Geschichte seiner nächtlichen Erlebnisse so zu erzählen, als wären sie ebenfalls nur ein Traum gewesen. "[…] und dann, erst wenn sie die ganze Nichtigkeit seiner Abenteuer gefühlt und erkannt hatte, wollte er ihr gestehen, daß sie Wirklichkeit gewesen waren." [101]
Erst nachdem Fridolin seiner Frau seine nächtlichen Erlebnisse gebeichtet hat, erwachen beide wie aus einem Alptraum. Auf die ratlose Frage Fridolins "Was sollen wir tun?" erwidert Albertine nur: "Dem Schicksal dankbar sein, […] daß wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den wirklichen und aus den geträumten." [103]
Nichtstun als Folge des Über-Ich
Es geht in Schnitzlers Traumnovelle also nicht um das Nichtstun im Sinne von Faulenzen, sondern im Sinne des Unterlassens, also darum, etwas Erwartetes, Erhofftes, Ersehntes gerade nicht zu tun. Das nicht Getane, Fridolins unterlassene Verführung bei der ersten Begegnung einerseits und Albertines unterlassenes Verhältnis mit dem Unbekannten andererseits, läßt sich als Handlung des Über-Ich interpretieren, das ihre Triebregungen kontrolliert. Diese Kontrollinstanz wird allerdings zugleich durch Träume und Leidenschaften wie Eifersucht in ihre Grenzen gewiesen. Albertine wird von ihren nicht ausgelebten sexuellen Wünschen in den (Alp-)Traum verfolgt, während Fridolin erst aus dem gelebten Alptraum erwacht, als er mit dem Tod der Prostituierten, die sich für ihn geopfert hatte, konfrontiert wird. Damit werden die Träume als Nachtseite des Tuns zur Warnung des Unterbewußten ans Bewußtsein, in dem Moment als sie ausgesprochen zu Bewußtsein kommen. Das Wort wird dabei zum Vermittler zwischen Tag-, Nacht- und Alptraum. Sie tun nichts, sie reden nur. Daß allerdings ein Wortwechsel nicht als Nichtstun bezeichnet werden kann, zeigt allein, daß Albertines Geständnis Fridolin dazu bewegt, etwas zu tun, was er davor nicht einmal im Traum getan hätte, nämlich Prostituierte aufzusuchen.
Träume als Folge des Nichttuns
Es stellt sich die Frage, ob Träumen als Nichtstun bezeichnet werden kann. Schnitzler legt Fridolin die abschließenden Worte in den Mund "Und kein Traum […] ist völlig Traum." [103] Es sind Albertines Träume, die sie letztendlich dazu bewegen, nicht zu tun, wonach sie sich ursprünglich gesehnt hat, da sie beim Erwachen über die ihr zu Bewußtsein kommende Grausamkeit ihrer Traumphantasien zutiefst erschreckt. Angesichts der Heftigkeit ihrer erotischen Träume zeigt sich die Unmöglichkeit, selbst im Traum einfach nichts zu tun. Allerdings soll es auch traumlose Phasen geben und an diese mag Schnitzler gedacht haben, als er die Protagonisten nach all den überstandenen Abenteuern "einander traumlos nah" sein läßt. [103] Träume sind somit in der Novelle ein Ansturm gegen das nicht Getane. Albertine und Fridolin haben sich zwar nichts getan, in dem Sinn, daß sie einander physisch nicht betrogen haben, doch können sie sich erst wieder traumlos nah sein, nachdem sie einander in Gedanken, Phantasien und Träumen hintergangen haben. Während dieses Nichttun in Schnitzlers Traumnovelle weitgehend auf äußere Umständen zurückzuführen ist, wird das Nichtstun selbst in Träumen als Schimäre entlarvt.
Die Traumnovelle zeigt, wie trügerisch das Nichtstun sein kann, sobald man unter die Oberfläche dringt. Unter der Oberfläche der gesellschaftlichen Konventionen lauern nicht nur Albertines erotische Gefühle, Sehnsüchte und Träume, sondern die einer ganzen Gesellschaft wie bei der geschlossenen Gesellschaft deutlich wird. Daß Albertine nichts getan hat, hängt wesentlich mit der Rolle der bürgerlichen Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert und den entsprechenden internalisierten Moralvorstellungen zusammen. Während die erotischen Eskapaden von Frauen als Hurerei diskreditiert wurden, galt das gleich Tun bei Männern als Kavaliersdelikt. Doch wird in der Konstellation von Schnitzlers Traumnovelle das Liebesglück im Ehebett zum Ehebruch, denkt Albertine dabei doch an einen anderen. In diesem gedanklichen Ehebruch kristallisiert sich die Dialektik von Tun und Nichttun in der Traumnovelle. Das Nichtstun gerinnt zum Moment des einander traumlos nah Sein am Schluß der Novelle und gerade dieses ephemere Nichtstun verweist auf die Labilität der Versöhnung angesichts der Dynamik psychischer Kräfte.
Das ephemere Nichtstuns
Die Träume Albertines können nicht als Nichtstun bezeichnet werden, im Gegenteil, sie folgen einem Stationenweg, der dem ihres Mannes in nichts nachsteht. So wie das nicht Getane, nämlich die Realisierung sexueller Wünsche nicht folgenlos geblieben ist, da gerade die Unterlassung zu den kompensatorischen Träumen geführt hat, bleiben wiederum auch die Träume nicht folgenlos, da sie Bewußtseinsprozesse auslösen, die die Beziehung des Ehepaares letztendlich verändern. Somit sind Nichttun im Sinne des Unterlassens und Nichtstun in Form von Traumaktivitäten dialektisch aufeinander bezogen und demonstrieren die Unmöglichkeit, selbst im Schlaf einfach nichts zu tun. Das Handeln wird aber wiederum geschlechtsspezifisch konnotiert. So erwartet Albertine, daß ihr Mann ihre sexuellen Wünsche erkennt und den ersten Schritt unternimmt, um sie damit aus ihrem rollenspezifischen Nichttun innerhalb der geltenden moralischen Normen der Gesellschaft zu erlösen. Bei ihrem Geständnis deckt Albertine "eine Seite ihres Wesens auf, die nach Erfüllung verlangt, aber unbefriedigt geblieben ist (3)". Daß Fridolin die geheimsten Wünsche seiner Gattin nicht erkannt hat, kennzeichnet ihn als Antipoden des männlichen Eroberers, dessen Verhalten mit den moralisch-sittlichen Forderungen seiner Zeit korrespondiert. Diesem Charakter entspricht auch seine Beobachterrolle auf dem Maskenball. Die Suche nach erotischen Abenteuern wird erst durch die Geständnisse seiner Gattin ausgelöst, die ihn in seiner männlichen Ehre gekränkt und als Gatten brüskiert hat.
Nichttun zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit
In der Traumnovelle wird die Triebstruktur des Unterbewußtseins zum Motor des Handelns, während die internalisierten gesellschaftlichen Rollen- und Moralvorstellungen für das Nichttun im Sinne der Triebunterdrückung verantwortlich gemacht werden. Indem die Träume aber gegen das nicht Getane Sturm laufen, wird die Unmöglichkeit des Nichtstuns vorgeführt. Die Traumnovelle handelt somit von dem Abenteuer unrealisierter Möglichkeiten, die dem Wirklichen als Schattenseite untrennbar verbunden sind. Somit wird der schmale Grat des Wirklichen vor den grenzenlosen Hintergrund des Möglichen gerückt. Diese erotisch gedeuteten Möglichkeiten resümiert Schnitzler in seiner Briefnovelle "Der letzte Brief eines Literaten" folgendermaßen:
"Denn auch in den innigsten Verbindungen, bei vollkommener gegenseitiger Treue, waltet in den Tiefen unseres Wesens der Drang von Frau zu Mann und Mann zu Frau unbeirrt nach ewigen Gesetzen weiter; ist auch nach weiteren Liebesmöglichkeiten keine Sehnsucht vorhanden, ja graut es die innig Verbundene selbst vor dem Spiel mit solchen Möglichkeiten – das Wissen um sie, als von der Natur selbst gewollt, ist nicht fortzudeuten und fortzudenken." (4)
Erst die Rückkehr aus den Abenteuern des Möglichen in die Wirklichkeit der Ehe läßt das nicht Getane – also die ausstehende Verwirklichung der nur beobachteten bzw. geträumten sexuellen Abenteuer – in neuem Licht erscheinen. Der Blick in die Abgründe der Seelen, ihrer Schicksale und Möglichkeiten, ist zwar mit Entsetzen verbunden, doch wird zugleich gezeigt, daß erst dieser Blick, "der das unheimlich Unverfügbare ins Bewußtsein hebt" unverstelltes Erkennen verbürgt (5). Somit scheint im Nichttun im Sinne einer bewußten Unterlassung zugleich eine Erkenntnismöglichkeit auf, da Handlungsimpuls und Unterdrückungsmechanismen an der Grenzlinie von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn ineinander verschlungen sind. Dabei wird der Traum aber nicht allein als Kompensation nicht gelebter Möglichkeiten dargestellt, sondern auch als Erscheinungsform eigengesetzlicher und objektiver Wirklichkeitsbereiche, in denen sich Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn gegenseitig bedingen.
Tun und Nichttun
In der Traumnovelle werden Freuds Trias von Ich, Es und Über-Ich in ihrer Verflechtung vorgeführt (6). Dabei wird deutlich, daß das Nichttun gerade nicht mit bloßer Passivität gleichgesetzt werden kann, sondern hochgradig vom Über-Ich gesteuert wird. Die Verdrängung der Sexualität wird ebenso wie die obsessive Wiederkehr durch die gesellschaftlichen Normen und Unterdrückungsmechanismen gesteuert. Somit vereitelt der "Elan vital" das Nichtstun. Indem der Traum als Realität des Unterbewußten dargestellt wird, ist eben kein Traum "völlig Traum" [103], wie es abschließend heißt. Für die Wahrheit des Unterbewußten sind damit Tun und Nichttun qualitativ gleichwertig. Diese im Zeitalter des Konstruktivismus und der Virtualität beinahe banal anmutende Feststellung hatte zu Schnitzlers Lebzeiten allerdings eine enorme Sprengkraft, insofern er die postulierte, vermeintlich natürliche Geschlechterdifferenz durch das Aufdecken der erotischen Träume radikal negierte und somit Träume als Ansturm gegen das nicht Getane inszenierte.

Fußnoten

(1) Zitiert wird aus: Schnitzler, Arthur: Die Braut. Traumnovelle. Stuttgart 1999. (Reclam)
(2) Vgl. Gotthart Wunberg: Fin de siècle in Wien. Zum bewußtseinsgeschichtlichen Horizont von Schnitzlers Zeitgenossenschaft. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.) Text + Kritik. Heft 138/139 (IV/1998) Arthur Schnitzler, S. 3-23; Rolf-Peter Janz / Klaus Laermann: Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im fin de siècle. Stuttgart 1977.
(3) Kluge, Gerhard: Wunsch und Wirklichkeit in Arthur Schnitzlers Traumnovelle. In: Text & Kontext. Bd. 10 (1982), S. 319-343, hier S. 321.
(4) Zitiert nach Hans Joachim Schrimpf: Arthur Schnitzlers Traumnovelle. In: ZfdPh, Bd. 82 (1963), S. 172-192, hier S. 179.
(5) Ebda., S. 185.
(6) Vgl. dazu auch Karl Schuster: Arthur Schnitzler: Traumnovelle. In: Jakob Lehmann (Hg.): Deutsche Novellen von Goethe bis Walser. Bd. 2. S. 161-183, insbes. S. 162f sowie Hilde Spiel: In meinem Garten schlendernd. München 1981, S. 128-135.