Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Lesen
"Die Welt ist das Buch der Frauen"
Bettina Sklorz-Kugler
Lektüre und Geschlechtskonzeption bei Jean-Jacques Rosseau
Scheinbar apodiktische Sätze wie "la femme est faite spécialement pour plaire à l'homme" (IV,693), "l'un doit être actif et fort, l'autre passif et foible" (ebd.) "Le monde est le livre des femmes" (IV,737) aus dem Erziehungsroman Emile haben Jean-Jacques Rousseau zur bevorzugten Zielscheibe der feministischen Rezeption gemacht. Nicht nur wolle Rousseau der Frau Bildung und Lektüre vorenthalten und sie auf ihre Rolle als Mutter und treusorgende Gattin festlegen - deutlicher und unverhüllter als hier, so schreibt Silvia Bovenschen in Die imaginierte Weiblichkeit (1977) und bezieht sich auf den Abschnitt über die Mädchenerziehung in Emile, sei "die supplementäre Bestimmung des Weiblichen und die Appendixfunktion der Frauen wohl niemals formuliert worden". Die vereinfachende Festlegung der Frau auf die Domäne der "empfindsamen Rezeptivität" und auf eine willfährige Unterordnung unter die Stärke des Mannes, die Bovenschen und andere feministische Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher fachlicher Herkunft auf Rousseau zurückführen, verrät eher eine oberflächliche, wörtliche und selektive Lektüre denn eine wirkliche Vertrautheit mit den paradoxen Denkfiguren Rousseaus und seiner 'gleitenden' Rhetorik, die Jacques Derridas Arbeiten herausgestellt haben. Schnell wird der konservative Querdenker, der seinen Texten immer wieder Hinweise auf die Fiktionalität der Fiktion einschrieb, unter einer solch eingeschränkten Perspektive zum Frauenfeind par excellence.
Seinen angeblichen "Rekurs auf die Natur" verbindet die feministische Forschung voreilig mit einem geschichtslosen Konzept natürlicher Weiblichkeit, das sich bei Rousseau so nicht findet. Bei genauerer und unvoreingenommener Betrachtung ergeben die Textbefunde vielmehr ein wesentlich differenzierteres Bild: nicht nur weist Rousseau der physisch schwächeren Frau Eigenschaften zu, die ihr erlauben, auf subtile Weise die Herrschaftsverhältnisse umzukehren, zumindest aber als anders veranlagte, gerade dadurch aber gleichwertige Partnerin in Erscheinung zu treten. Er wird darüberhinaus der komplexen, widersprüchlichen Wirklichkeit einer längst vom Naturzustand entfernten Gesellschaft auch insofern gerecht, als er seine eigenen Entwürfe nicht in eindimensionaler Traktatform - wie sie allerdings meist gelesen werden - präsentiert, sondern perspektivisch gebrochen, formal zwischen Romanerzählung und pädagogischem bzw. philosophischem Diskurs schwankend wie der hybride "Roman" Emile. Nicht nur die Utopie eines harmonischen Geschlechterverhältnisses gerät durch die Konfrontation mit Erzählungen des Scheiterns - sowohl in Emile als auch in der Nouvelle Héloïse - in ein eigentümliches Zwielicht, das in der Rousseauforschung selten ernst genommen wird. (Als positive Gegenbeispiele seien Derrida und Starobinski genannt, die feministische Rezeption ist durch die Dissertation Christine Garbes differenziert worden.)
Ziel meiner Untersuchung ist, am Beispiel der Lektürethematik Rousseau als Autor gerecht zu werden, dessen Schriften nicht unabhängig vom jeweiligen Kontext und von ihrer Literarizität, ihrer sprachlichen Verfaßtheit, betrachtet werden können. Die Frage nach dem Zusammenhang von Lektüre und Geschlechterkonzeption soll anregen zu einer differenzierten Rousseau-Lektüre, die Texte nicht als "Steinbruch" für Äußerungen widersprüchlichster Art und Weise mißbraucht und scheinbaren Widersprüchen auf der inhaltlichen Ebene sowie Ambivalenzen auf der diskursiven Ebene nicht dadurch aus dem Weg geht, daß sie auf wörtlichem Sinn besteht oder in der Absicherung durch den Text selektiv verfährt. Ein Ergebnis dabei ist, daß auf gegenseitige Ergänzung zielende theoretisch entfaltete Geschlechterkonzeptionen auf den ersten Blick apodiktisch stabilisiert werden. Insbesondere für die fiktionalen Texte gilt dies jedoch nur, so lange man die jeweils sich äußernde Figur unabhängig von Perspektive und Situation beim Wort nimmt. Der "Subtext" und der narrative Kontext, in den die Ausführungen gestellt werden, erweisen sich dagegen als wesentlich labiler und entlarven viele Positionen als in einer korrumpierten Gegenwart nicht realisierbare Projektionen.
Die Fragestellung nach der Leserin als Gegenstand pädagogischer Entwürfe und als Motiv der literarischen Praxis verdichtet sich bei Rousseau in einem Satz, an dem Silvia Bovenschen besonders Anstoß nahm: "Le monde est le livre des femmes". (IV,737) Ernst zu nehmen an der im 5. Buch des Emile fallenden Äußerung ist der Begriff monde; es geht ausdrücklich nicht um das Buch der Natur, sondern die Frau wird in den modernen, gesellschaftlichen Kontext gestellt. Während die empfindsame Frau und Leserin in der Nachfolge Rousseaus zum männlichen Phantasma in der bildenden Kunst und Literatur avanciere, so Bovenschen, ist die Leserin gleichzeitig Schreckbild der Pädagogen - sowohl die jugendliche Leserin schlechter Romane als auch der gelehrte Blaustrumpf. Die Häufigkeit des literarischen Motivs "fataler Lektüre" in Roman und Drama und die Unentbehrlichkeit des Accessoires Buch in Frauenportraits der Zeit geht einher mit hitzig geführten Debatten über "richtiges" und "falsches" Lesen. In ihren Abhandlungen über die Gefahren des Lesens oder den Kanon geeigneter Lektüre - der in der Regel Romane von vornherein ausschließt - haben die Pädagogen und Literaten der Zeit in erster Linie jugendliche Leser und Frauen vor Augen und verfestigen mit den "Lektüreempfehlungen für Frauenzimmer" eine neue, empfindsame und sich auf die "Natur" berufende Konzeption eines weiblichen Geschlechtscharakters. Die Berufung auf Rousseau scheint insbesondere durch den Abschnitt über die Mädchenerziehung im 5. Buch des Emile sowie durch das - als verführerische Warnung formulierte - Vorwort zum Roman Julie fundiert zu sein. Die für Rousseau typische Katastrophenrhetorik freilich sollte den aufmerksamen Leser zu einer kritischen Lektüre der unscheinbaren Nachsätze und der Durchführung theoretischer Konzepte in der Fiktion herausfordern, in denen vieles differenziert wird, was apodiktische Sätze und pathetische Formeln zunächst ausklammern. Im Vorwort der Julie beispielsweise behauptet Rousseau kategorisch:
"Jamais fille chaste n'a lu de romans, et j'ai mis à celui-ci un titre assez décidé pour qu'en ouvrant on sût à quoi s'en tenir. Celle qui, malgré ce titre, en osera lire une seule page est une fille perdu; mais qu'elle n'impute point sa perte à ce livre, le mal était fait d'avance." (Préface, S. 4)
Er versäumt allerdings nicht, dem Gros der tatsächlichen weiblichen, bereits "verdorbenen" Leser seiner Zeit im gleichen Atemzug seinen eigenen Roman als heilsamen Antiroman zu empfehlen: "Puisqu'elle a commencé, qu'elle achève de lire: elle n'a plus rien à risquer." (ebd.) Implizit steckt in der zum Ausdruck gebrachten Angst, eine jeune fille könne sein Buch in die Hand bekommen und es begierig öffnen, ein Hinweis auf die korrumpierte Gesellschaft, die Romane braucht - charakteristisch ist die Ambivalenz des scheinbar unmißverständlichen ersten Satzes "Il faut des spectacles dans les grandes villes, et des romans aux peuples corrompus". Unentscheidbar bleibt nämlich, ob "il faut" als Befund oder als Forderung aufzufassen ist. Rousseaus "Roman", der sich gleichzeitig als authentische Briefsammlung ausgibt - vor allem die dialogische Seconde Préface verschleiert die Autorschaft Rousseaus und handelt auf subtile Weise eine Art Contrat littéraire mit dem Leser über die richtige Lesehaltung aus -, dient als Vehikel für eine grundsätzliche Reform nicht nur der angegriffenen Gattung selbst, sondern auch des Umgangs mit ihr und verfolgt das Ziel, so Sieghild Bogumil in ihrer Arbeit Rousseau und die Erziehung des Lesers, den mit falschen, am konventionellen Roman gebildeten Erwartungen seine Lektüre beginnenden Leser nach dem Bilde zu formen, das sich der Autor in seinem Werk implizit und explizit von ihm macht. Gerade die Lektüre eines solcherart von innen reformierten Romans erscheint als mögliche Rettung in der Gefahr der moralischen Korrumpiertheit, als 'remède dans le mal', wie Rousseau seine ambivalenten Entwürfe für Zeiten nach dem Verlust der Natur im Contrat social definiert.
Darüber hinaus werden auch auf der Handlungsebene des Romans Inhalt, Umfang und Vorgehensweise der Lektüre reflektiert. Zwischen Julie und ihrem Lehrer Saint-Preux gibt es wie zwischen Autor und Leser einen Contrat littéraire, den Saint-Preux im 12. Brief des ersten Teiles umreißt. Die Lektüre soll oberflächlich besehen der Unterweisung der Schülerin und Geliebten Julie dienen, ist aber gleichzeitig Medium der Verführung und Katalysator der Leidenschaft. Im Gegensatz zur in Paris Mode gewordenen extensiven und flüchtigen Lektüre wird die Bücherliste Julies auf das "Notwendigste" beschränkt. St. Preux gibt für Unterrichts- und Privatlektüre einer intensiven, darin der Brieflektüre entsprechenden konzentrierten (Wiederholungs-) Lektüre den Vorzug und will sich mit Julie umfassend darüber austauschen, was in den späteren Briefen auch durchgehend geschieht. In der Ablehnung umfangreicher und kursorischer Lektüre kommt zum einen die sich auf Montaigne berufende Warnung vor der Unfähigkeit zum Denken durch übermäßiges Buchwissen zum Ausdruck:
"Peu lire, et penser beaucoup à nos lectures, ou, ce qui est la même chose, en causer beaucoup entre nous, est le moyen de les bien digérer; je pense que quand on a une fois l'entendement ouvert par l'habitude de réfléchir, il vaut toujours mieux trouver de soi-même les choses qu'on trouverait dans les livres; c'est le vrai secret de les bien mouler dans sa tête, et de se les approprier [...]." (Première Partie, Lettre XII, S. 31)
Zum anderen aber geht es St. Preux auch um eine produktive Umsetzung des wohlverdauten Gelesenen. Die Lektüre soll nicht der bloßen Anhäufung von Spezialwissen dienen; Ziel des Lesens ist vielmehr eine Umwandlung des Gelesenen für den eigenen Gebrauch, die sich auch sprachlich niederschlägt. Immer wieder schöpft der empfindsame Diskurs des Ersten Teils aus dem heterogenen Fundus der gemeinsamen Lektüre. Insbesondere Julie demonstriert durch ihren häufigen Rekurs auf Analogien aus Physik und Geometrie einerseits ihre Fähigkeit zum selbständigen Umgang mit dem Gelesenen und Gelernten, andererseits ihre alle Daseinsbereiche - auch die mathematische und naturwissenschaftliche Lektion - durchdringende Leidenschaft, die alles auf den Gegenstand des Begehrens bezieht und sich auch aus entfernten Gegenstandsbereichen nährt. Lesen und der damit verbundene Erwerb von Kenntnissen ist nicht nur eine essentielle Tätigkeit wie die Nahrungsaufnahme (nourrir, bien digérer), sondern erfordert auch wie diese eine Art persönliche Anverwandlung, um Fremdbestimmtheit durch Texte, wie sie sich in Julies Phèdre- bzw. Clarissa-Stilisierung in Brief 4 zeigt, zu vermeiden:
"Pour nous qui voulons profiter de nos connaissances, nous ne les amassons point pour les revendre, mais pour les convertir à notre usage; ni pour nous en charger, mais pour nous en nourrir." (S. 31)
Eine uneingestandene Perfidie von St. Preux liegt freilich darin, daß, vorgeblich um der Cousine Claire einen Gefallen zu tun, der Lehrplan sich nicht in der wenn auch eingeschränkten Lektüre physikalischer, geographischer und historischer Sachtexte, in Musik und Zeichnen erschöpft, sondern den literarischen Schwerpunkt auf Liebeslyrik und ausgewählte französische Dramatiker legt und damit einer subtilen Verführung Vorschub leistet.
"J'ai laissé, par égard pour votre inséparable cousine, quelques livres de petite littérature que je n'aurais pas laissés pour vous; hors de Pétrarque, le Tasse, le Métastase, et les maîtres du théâtre français, je n'y mêle ni poète, ni livres d'amour, contre l'ordinaire des lectures consacrées à votre sexe." (p. 34)
Die Romane hält St. Preux eher für leidenschaftsschwächend für all jene, die das verzehrende Feuer wahrer Liebe kennengelernt haben. Wahre Liebe und richtiges Lesen fordern zu Aktivität heraus, wovon der umfangreiche Briefwechsel zeugt. Die briefliche Kommunikation ist eine produktive Möglichkeit, Lektüre mit den eigenen Erfahrungen zu verbinden, eine Form des approprier und des convertir à son usage. Immer wieder beziehen sich die Briefschreiber auf Gelesenes. Die oft kommentarlos einen gemeinsamen Horizont aufrufenden italienischen Zitate von Metastasio, Petrarca und Tasso sind sowohl Katalysatoren der Erinnerung an gemeinsame Lektüre als auch Ausdrucksmedium dessen, was die Schreibenden selbst nicht in Sprache zu fassen vermögen. Sie erweitern somit das Spektrum der leidenschaftlichen Kommunikation. In längeren diskursiven Abschnitten der "Digressionsbriefe" dient der gemeinsame Lektürekanon als Diskussiongrundlage, stützt die Argumentation oder veranschaulicht die beschriebene Situation - beispielsweise St. Preux' Briefe über die Pariser Oper und die mondäne Gesellschaft, die in der Tradition La Bruyères stehen. Julies Briefe zeugen von der Fähigkeit zur Anwendung des Gelernten und Gelesenen auf ihre aktuelle persönliche Situation, so im 15. Brief des Zweiten Teils, in dem sie an die gemeinsame Plutarch-Lektüre erinnert: "Je me souviens des réflexions que nous faisions, en lisant ton Plutarque, sur un goût dépravé qui outrage la nature. [...] Appliquons la même idée aux erreurs d'une imagination trop forte, elle ne leur conviendra pas moins." (S. 213) Gemeinsame Lektüre, Analyse und Diskussion ist vielfach Grundlage späterer brieflicher Gespräche und in der Zeit der Trennung Ersatz für die Gegenwart des Partners. Die Fähigkeit zur "richtigen" Lektüre überträgt Julie darüberhinaus auch auf die Briefe von St. Preux, deren Stil und Tonfall sie höchst sensibel registriert und interpretiert. Die Sprache wird als Indikator einer emotionalen Tiefenschicht und der augenblicklichen Verfassung des nicht gegenwärtigen Schreibenden selbst Gegenstand der Ausdeutung und der Selbstexploration. Beispielsweise wirft Julie St. Preux des öfteren einen unangebrachten Stil vor, hinter dem er sein wahres Gesicht wie hinter einer Maske verberge, so in ihrer Antwort auf das Geständnis seines "Sündenfalls" in Paris:
"Quoique vous ne m'ayez rien dit en particulier des habitudes que vous vous êtes faites à Paris, il est aisé de juger de vos sociétés par vos lettres, et de ceux qui vous montrent les objets par votre manière de les voir. Je ne vous ai point caché combien j'étais peu contente de vos relations: vous avez continué sur le même ton, et mon déplaisir n'a fait qu'augmenter." (Seconde Partie, Lettre XXVII, S. 277)
Bereits in einem früheren Brief beklagt sie eine gekünstelte, nicht authentische Sprache, die eine unverstellte Kommunikation störe und sich in leerem, eitlem Ausstellen eines bel esprit gefalle: "Dis-moi, je te prie, mon cher ami, en quelle langue ou plutôt en quel jargon est la relation de ta dernière lettre? Ne serait-ce point-là par hasard du bel esprit? [...] A ton avis, les traslati du cavalier Marin, dont tu t'es si souvent moqué, approchèrent-ils jamais de ces métaphores [...]?" (Seconde Partie, Lettre XV, S. 213f.). Die genaue Lektüre der Briefe befähigt Julie, im Herzen von St. Preux zu lesen, das Ungesagte zu rekonstruieren und in ihren Antwortbriefen Einfluß auf die Verfassung und die Handlungsintentionen des Absenders zu nehmen. Aus der rezeptiven Eigenschaft, gründlich und aufmerksam für feine Nuancen lesen zu können, schöpft sie die Befähigung zu einer auch aktiven Kompetenz im Umgang mit Sprache, mittels derer sie die "Führung" in der durch äußere Widerstände gestörten Beziehung übernimmt.
Als Ehefrau und Mutter verzichtet Julie nicht nur auf die Briefe ihres früheren Geliebten und begnügt sich in der Zeit seiner Abwesenheit mit über Dritte vermittelte Nachrichten von St. Preux. Auch die Lektüre schränkt sie nach der conversion noch stärker ein, nicht nur bedingt durch die Fülle an häuslichen Pflichten, die wenig Mußestunden gewähren. In einem Brief an Milord Edouard berichtet der nach Clarens zurückgekehrte St. Preux von Julies veränderten, dem tätigen Leben gewidmeten Gewohnheiten:
"Elle pratique aujourd'hui ce qu'elle apprenait autrefois. Elle n'étudie plus, elle ne lit plus: elle agit. Comme elle se lève une heure plus tard que son mari, elle se couche aussi plus tard d'une heure. Cette heure est le seul temps qu'elle donne encore à l'étude, et la journée ne lui paraît jamais assez longue pour tous les soins dont elle aime à la remplir." (Cinquième Partie, Lettre III, S. 542)
Obwohl sie als Ehefrau das Privileg der Lektürefreiheit genießen könnte - denn die Lesesuchtdebatte hat vornehmlich unverheiratete Mädchen im Blick, die durch Romane verführt werden könnten, während sich Rousseau von guten Romanen, für die Julie als Modell dient, für verheiratete Frauen oder "celles, qui, dans une vie déréglée, ont conservé quelque amour pour l'honnêteté" (Préface, S. 4) sogar eine moralische Besserung verspricht, verbietet sich Julie eine extensive Lektüre durch die festgelegte, auf eine Stunde beschränkte Tageszeit und demonstriert auch in der Art der Lektüre eine Läuterung: statt identifikatorischen Lesens von italienischer Liebeslyrik widmet sie sich den Büchern in der Form des ernsthaften Studiums. Für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder entwirft sie ein eigenes Lektürekonzept, das sich an Rousseaus negativer Pädagogik orientiert und die Überfrachtung der Kinder mit Bücherwissen sorgsam vermeidet. Die exemplarische Leserin Julie reift Rousseaus Konzeption zufolge durch die eigene Lektürebiographie, den direkten und brieflichen Austausch mit St. Preux und die Übernahme der Grundsätze ihres Mannes Wolmar zu einer Pädagogin "richtigen" Umgangs mit Lektüre heran, die nicht nur Mittel und Wege kennt, ihrem Sohn das Lesenlernen schmackhaft zu machen (Fünfter Teil, Dritter Brief), sondern auch um das rechte Maß weiß:
"[...] quoiqu'il apprenne à lire, ce n'est point des livres qu'il tirera ces connaissances; car elles ne s'y trouvent point, et la lecture ne convient en aucune manière aux enfants. Je veux aussi l'habituer de bonne heure à nourrir se tête d'idées et non de mots: c'est pourquoi je ne lui fais jamais rien apprendre par coeur." (Cinquième Partie, Lettre III, S. 568f.)
Intensive und auf das Handeln rückwirkende Lektüre, so haben die ausgewählten Beispiele veranschaulicht, pflegen die Protagonisten eines Romans, der sich gegen die gängige Lektürepraxis in Paris richtet, dieser freilich nicht entgeht, wird er doch, so dokumentieren die zahlreichen erhaltenen Rezeptionszeugnisse, vor allem von Frauen "verschlungen" und den Vermutungen des Vorworts zum Trotz von einem breiten Lesepublikum rezipiert.
Interessant im Hinblick auf meine spezielle Fragestellung nach dem Zusammenhang von Lektüre und Geschlechterdifferenz sind neben dem Motiv der Lektüre in Julie, das als Thema die Korrespondenz der Liebenden leitmotivisch durchzieht und darüberhinaus basal für die Konzeption des Werks als Briefroman ist - denn lesend und schreibend verständigen sich die Protagonisten über ihre Empfindungen und treiben so die innere und äußere Handlung voran -, auch jene Passagen im Emile, in denen Rousseau sein Konzept der Mädchenerziehung auf spezifisch weibliche Kompetenzen zurückführt, die sich mit Schlagworten wie "empfindsamer Rezeptivität" (Bovenschen), "Passivität" und "Mütterlichkeit" nicht zufriedenstellend beschreiben lassen. Nachdem der Erzieher Emiles der Erfahrung eindeutig den Vorzug gegenüber dem Bücherwissen gegeben hat und vor dem Zwang des Lesenlernens in einem Alter gewarnt hat, in dem das Kind noch nicht selbst die Notwendigkeit dieser Kulturtechnik erkannt hat, überträgt er diese Grundsätze auf die Bildung und Erziehung Sophies. Es geht nicht darum, Mädchen die Bildung vorzuenthalten, die Jungen gewährt wird: beide sollen von schädlichen Einflüssen ferngehalten und durch Erfahrung zu lebenstüchtigen Erwachsenen herangebildet werden. Ihre natürliche Erziehung freilich kann unter den Bedingungen einer depravierten Gesellschaft nur durch ein höchst artifizielles verborgenes Arrangement und auch nicht vollkommen ohne Bücher stattfinden.
Dies läßt sich auf eine Grundeinsicht des Denkens von Rousseau zurückführen - die Tatsache nämlich, daß der état civil nicht mit den Maßstäben des Naturzustandes gemessen und beurteilt werden darf, sondern eigenen Gesetzen gehorcht, die nicht zwangsläufig schlecht im Gegensatz zum état naturel sein müssen ("Il ne faut pas confondre ce qui est naturel à l'état sauvage et ce qui est naturel à l'état civil."). Diese differenzierende Haltung gilt auch für die Konzeption des Weiblichen und für Rousseaus Einstellung zur Lektüre, zum Umgang mit den von ihm selbst innig geliebten Büchern. Was mit dem 'état naturel' verlorengegangen ist, kann nicht zum Leitbild für das gesellschaftliche Leben der grandes villes und der peuples corrompus erhoben werden, an deren Adresse Rousseau seine Entwürfe in Buch-, ja sogar in Romanform wendet. Zumindest in seinen Büchern muß die Frau studieren, die sich trotz schlechter Romane "quelque amour pour l'honnêteté" bewahrt hat und ihre Kinder von negativen Einflüssen der depravierten Welt fernhalten will.
Aufschlußreich sind deshalb jene Äußerungen über das weibliche Wesen, die sich mit der spezifischen Lesekompetenz von Frauen in einem weitgefaßten Wortsinn und mit ihrer besonderen Begabung bei der Handhabung des indirekten Aktionsmediums Sprache beschäftigen. Nach der grundsätzlichen Feststellung, daß der Mann der Frau an Stärke überlegen ist und nur durch seine Begierden von ihr abhängt, die Frau dagegen in ihrer physischen Unterlegenheit in Abhängigkeit vom Mann steht, differenziert Rousseau wie gewohnt. "Il faut nécessairement que l'un veuille et puisse; il suffit que l'autre resiste peu" (IV,693) deutet er eine kunstvolle Strategie des sanften, auf eine besondere Interpretationsfähigkeit basierenden Widerstands als Regulativ weiblichen Handelns an.
Voraussetzung für den subtilen weiblichen Mechanismus des sich-Widersetzens - der geschicktes Agieren und nicht etwa Passivität und völlige Unterwerfung meint - ist die Ausbildung des esprit, den Rousseau als "Kunst, sich des unseren [also dem der Männer, bsk] zu bedienen und unsere eigenen Vorteile auszunutzen" beschreibt. Gerade die Fähigkeit zum richtigen Lesen im "Buch der Welt", in den verbalen und stummen Äußerungen der Menschen, im Herzen der Männer - wie Julie es an St. Preux beispielhaft vorführt - die feine Beobachtungsgabe und sichere Interpretation sprachlicher und parasprachlicher Zeichen, von Blicken, Gesten und Handlungen, die Frauen angeboren ist und zumeist äußerst geschickt gehandhabt wird, macht sie zu gleichwertigen, wenn nicht überlegenen Partnerinnen:
"A quoi tient tout cet art si ce n'est à des observations fines et continuelles qui lui font voir à chaque instant ce qui se passe dans les coeurs des hommes, et qui la disposent à porter à chaque mouvement secret qu'elle apperçoit la force qu'il faut pour le suspendre ou l'accélérer? Or cet art s'apprend-il? Non, il nait avec les femmes, et jamais les hommes ne l'ont au même dégré. Tel est un des caractéres distinctifs du séxe. La présence d'esprit, la pénétration, les observations fines sont la science des femmes, l'habileté de s'en prévaloir est leur talent." (IV, 734)
Die "Kunst", den Mann das tun zu lassen, was in ihrem Interesse steht, stützt die im Buch der Welt einfühlsam, aber alles andere als gefühlsselig lesende Frau besonders auf ihre mehr auf Wirkung denn auf Mitteilung zielende Redegewandtheit und den Rekurs auf Sprachstrategien des verbalen Umwegs: durch Inversionen, Metaphern und Negationen werden Spielräume der Deutung eröffnet, eindeutige Appelle aber umgangen und Handlungsstimuli geschickt verschleiert. Überlegen ist die Frau dem Mann nicht an Stärke, sondern an Geschicklichkeit im "Lesen" sprachlicher und parasprachlicher Zeichen sowie in der Fähigkeit, mit eben diesen Zeichen unmerklich die Leidenschaften zu beeinflussen und zu erreichen, daß der Mann nach ihrem Willen handelt.
"La femme, qui est foible et qui ne voit rien au dehors, apprécie et juge les mobiles qu'elle peut mettre en oeuvre pour suppléer à sa foiblesse, et ces mobiles sont les passions de l'homme. [...] Tout ce que son séxe ne peut faire par lui-même et qui lui est nécessaire ou agréable, il fait qu'il ait l'art de nous le faire vouloir: il faut donc qu'elle étudie à fond l'esprit de l'homme, non par abstraction l'esprit de l'homme en général, mais l'esprit des hommes qui l'entourent [...]. Il faut qu'elle apprenne à pénétrer leurs sentimens par leurs discours, par leurs actions, par leurs regards, par leurs gestes. Il faut que par ses discours, par ses actions, par ses regards, par ses geste elle sache leur donner les sentimens qu'il lui plait, sans même paroitre y songer." (IV, 737)
Rousseau veranschaulicht dies mit einem Beispiel im Emile (IV, 711f.): durch sein als "weiblich" charakterisiertes listiges Sprachverhalten ("une ruse de fille", 712) bei Tisch gelingt es dem Mädchen im Gegensatz zum gleichaltrigen Jungen geschickt, seine Bedürfnisse zu artikulieren, ohne eine direkte, eindeutige Forderung auszusprechen. Schon im Kindesalter manifestiert sich dem Beispiel zufolge die Geschlechterdifferenz im Umgang mit Zeichen. Beispiele für die spezifisch weiblichen Sprachstrategien finden sich aber auch in den Briefen Julies, besonders in den kurzen Antwort-Billets oder in mehrdeutigen Nachsätzen.
Sprache als komplexes Zeichensystem, in welchem Sinn nicht durch ein transparentes Bezeichnungsverhältnis, sondern durch die innere Verkettung und Beziehung von Zeichen konstituiert wird, erscheint als Basis einer (weiblichen) "Herrschaft der Geschicklichkeit".
"L'empire de la femme est un empire de douceur, d'addresse et de complaisance, ses ordres sont des caresses, ses menaces sont des pleurs. Elle doit régner dans la maison comme un ministre dans l'Etat, en se faisant commander ce qu'elle veut faire. En ce sens il est constant que les meilleurs ménages sont ceux où la femme a le plus d'autorité." (IV, 766f.)
Die durch eine besondere 'Lesefertigkeit' ermöglichte handlungsorientierte Kommunikation weist Rousseau als spezifisch weibliche Domäne und als Mittel der indirekten Einflußnahme und Handlungsmöglichkeit von Frauen aus und entwirft damit ein äußerst dynamisches Konzept der Geschlechterdifferenz, dessen Gleichgewicht von der Pflege dieser angeborenen Fähigkeiten abhängt und damit eine 'Lesepädagogik' im weitesten Sinne auf den Plan ruft, wie sie auch in der Korrespondenz von Julie und Saint-Preux im Rahmen des Lektürethemas zur Sprache kommt.

Literatur

Rousseau wurde nach der von Marcel Raymond und Bernard Gagnebin herausgegebenen Werkausgabe der "Bilbiothèque de la Pleiade" (Paris 1969) zitiert. Der Band wird mit römischer, die Seitenzahl mit arabischer Ziffer angegeben.
Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarischze Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/M. 1977. (Neben Bovenschen sind es vor allem Kate Millet (Sexus und Herrschaft, 1969), Ulrike Prokop in ihren literaturwissenschaftlichen Arbeiten und Sarah Kofmann (Rousseau und die Frauen, 1986), die Rousseau die Stabilisierung eines Frauen unterdrückenden Geschlechterkonzepts vorwerfen.
Sieghild Bogumil, Rousseau und die Erziehung des Lesers, Frankfurt/M. 1974.
Christine Garbes, Die 'weibliche List' im 'männlichen' Text. Jean Jacques Rousseau und die feministische Kritik, Stuttgart/Weimar 1992.