Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Lesen
Charakteristik und Kritik - Zwei Begriffe Friedrich Schlegels
Matthias Schöning
Lesen ist nicht Sagen. Kein Leser kann sich sicher sein, gelesen zu haben, was er in seiner Lektüre sagt. Mit dem Eintritt des lesenden Bewußtseins in den Zusammenhang der Kommunikation verändern sich alle Koordinaten der weiteren Bezugnahme. Thematisierbar ist diese Differenz von Lesen und Sagen, oder allgemeiner von Bewußtsein und Kommunikation, freilich nur innerhalb eines Kommunikationszusammenhanges, aber sie wird dadurch nicht hinfällig. Vielmehr zeigen sich bekanntlich gerade innerhalb der Kunstkommunikation signifikante Unterschiede, je nachdem ob die jeweiligen Beiträge die von ihnen beobachteten Werke als Anlässe ästhetischer Erfahrung oder als Kommunikationsofferten vorstellen.
Der folgende Artikel legt die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation (vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung 6) der Beobachtung des formal wenig spezifizierten Genres der Kunstkritik zu grunde und versucht, in der doppelten Begrifflichkeit Friedrich Schlegels erste Spuren ihrer Reflexion zu entziffern. Wenn im folgenden also von 'Kritik' die Rede ist, so geht es immer nur um Kunstkritik im engeren Sinne; daß auch F. Schlegel den philosophischen und alltagssprachlichen Begriffsgebrauch kennt, bleibt dabei bewußt, kann aber an dieser Stelle nicht eigens thematisiert werden.
Zunächst aber ganz allgemein: An ihre Leseerfahrungen können nur dieselben Personen wieder anschließen, während Kommunikationen (Lektüren), in denen Erfahrungen aus der Immanenz des Bewußtseins ins Forum vielfacher Beobachtung treten, ganz unterschiedliche Fortsetzungen erlauben, zumal wenn sie sich Trägermedien anvertrauen, die die Zeit der Äußerung lange zu überdauern vermögen. Die Privatheit von Bewußtseinsprozessen schließt aber nicht nur die Teilnahme jeder anderen Person aus, sondern läßt das jeweilige Bewußtsein in ganz anderer Form prozessieren als sich öffentliche Kommunikation vollzieht. Die Gedanken anläßlich der Lektüre von gestern etwa bleiben zwar Dank der "Retentionen" des "inneren Zeitbewußtseins" (Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins) von einem Hof von Gestrigkeit umgeben, ob sie aber in der aktiven Erinnerung so repräsentiert werden, wie sie sich gestern präsentiert haben, das kann niemals geklärt werden. Denkbar wäre, davon behält man doch wenigstens eine Ahnung, daß die spätere Erinnerung z.B. hinsichtlich von Erkenntnis weiterführt, als das gestern möglich gewesen wäre, aber an Faszinationskraft einbüßt (und umgekehrt). In keinem Fall jedoch kommen die Prozesse aus dem Verlauf des Zeitbewußtseins heraus, das den status quo jeder Leseerfahrung, jeder bewußtseinsmäßigen Bezugnahme auf Texte, mit der Sukzession des je Gegenwärtigen beständig verschiebt und jeden status quo ante verschüttet.
Im Bewußtsein kann es mithin keine Konflikte zwischen Lektüren geben, die wirklich Sinn machen. Man kann im Kopf sekundäre Auslegungsfragen hin und her wälzen, aber man kann sich nicht mit sich selbst über seine Leseeindrücke streiten, weil sich mit jedem Konfliktpunkt die Basis der Diskussion verschöbe. Denn aus der Vergangenheit des eigenen Bewußtseins die Eindrücke des Vortags zurückzuholen, um sie denen der Gegenwart vergleichend gegenüberzustellen, ist schlechthin unmöglich. (Vgl. dazu Wittgensteins Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Schmerzempfindungen in seinen Philosophischen Untersuchungen.) Ganz anders im Zusammenhang der Kommunikation, insbesondere der schriftlichen Kommunikation, die sich gerade im Konflikt der Ansichten selbst reproduziert. Hier kann gestritten werden, weil unabhängig von Rücksichten auf Bewußtseinsimmanenz zwar das Vergehen von Zeit nicht getilgt werden kann, aber die Fortsetzung in der Zeit gerade durch Wiederaufnahme vergangener Problemstellungen gelingt. An den Ausgangspunkt der Konflikte, den Text und seine ebenfalls textförmigen Interpretationen, kann immer wieder zurückgekehrt und der Gang der Sache, mit allen positiven wie negativen Impulsen, durch überliefertes Wissen neu verfolgt werden.
Wir wissen nicht, was in der schwarzen Kammer des Bewußtseins (zumal der anderen) vor sich geht, aber nach dem Gesagten können wir doch sicher sein, daß all die Lineaturen - neue Texte, Datenstreifen, Amplitudenfolgen -, die als disziplinspezifische Repräsentationen der Transformationen von Leseerfahrung auftreten mögen, nur sehr unvollkommene Übersetzungen dieser Erfahrung darstellen. Kommunikation setzt zwar Bewußtsein voraus und natürlich operieren beide im Medium des Sinns, aber anstatt einander zu repräsentieren, folgen beide nur der Eigenlogik ihrer Operationen. Das reflektieren, nebenbei bemerkt, die philosophischen Attacken gegen den Psychologismus in der Erkenntnistheorie ebenso wie der literaturwissenschaftliche Einspruch gegen die bloße Explikation von Lektüreerlebnissen. Es gibt keinen Grund, beim Erlebnis stehenzubleiben, wenn seine Versprachlichung immer schon mehr (und vielleicht auch weniger) als Erlebnis ist - jedenfalls etwas anderes. Das letzte Kapitel von James Joyce' Ulysses hat seinen Ruhm wohl kaum als Mimetik eines Bewußtseins erlangt, sondern durch literarische Forminnovation.
Dennoch gibt es Erlebnisse. Wie auch immer sie in ihrer Unvergleichbarkeit sich je konkret ausprägen mögen, jedes Einzelne bürgt für sich selbst durch eine Art stets mitlaufender Evidenzerfahrung, deren Intensitätsvorsprung vor den Mitteilungen und Informationen anderer eine unverzichtbare "Motivationsressource" (Luhmann, Ist Kunst codierbar? p.258) für Kommunikationsofferten darstellt. Es ist deshalb kein Zufall, daß gerade die anlaufende Selbstorganisation des Literatursystems eine bis dahin ungekannte Semantik der Individualität und des Selbstausdrucks prägt, die eine nur im Medium der Künste gelingende Repräsentation genuin persönlichen Erlebens verspricht (sei es auch im Modus des Scheiterns) und Autor wie Leserschaft an die genannten Ressourcen anschließt. Beispielhaft sind dafür einerseits die Redseligkeit, mit der - individuum est ineffabile - Individualität unter dem negativen Vorzeichen ihrer Irrepräsentabilität kommuniziert wird und andererseits das aus diesen Erfahrungen gespeiste Ringen um eine Sprachkonzeption, die den Makel der Arbitrarität der Zeichen tilgen will. Weiterhin büßen die poetologischen Begriffe an Technizität ein, um verstärkt Bedeutungen aus dem Diskurs der Seele und der als schöpferisch verstandenen Natur aufzunehmen. Es geht dabei nicht darum, die ökologische Differenz von Kommunikation und Bewußtsein zu überbrücken, sondern im Gegenteil wird die Differenz auf Seiten der Kommunikation wieder eingeführt. Im selben Zuge wird ein Bezugsproblem gewonnen, das einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Selbstreproduktion des Kommunikationszusammenhangs verspricht. Angetrieben durch das Problem, Individualität im kollektiven Medium 'Sprache' darstellen zu wollen, evoluiert eine neue literarische Formensprache, die - wie auch immer man das dahinterstehende Programm einschätzen mag - die Literatur als Literatur, als Sprachkunst, interessant macht.
Die Erfolgsgeschichte der Authentizität und des Erlebnisses einer von externen Leistungserwartungen freigestellten Literatur ist demnach nichts weniger als ein Mißverständnis, etwa ihrer operationalen Konditionen, aber es gehört zu ihrer Merkwürdigkeit, wie die in Gang gesetzte, wenigstens aber stark beschleunigte Formenevolution einerseits und die Individualitätssemantik andererseits sich in ihren Selbstbeschreibungen gegenseitig mehr oder weniger konsequent ausblenden. Individualität, die doch nur aus sich sprechen will, wird lesbar nur als Abweichung von Bekanntem. Werke im emphatischen Sinn, die monolithisch dastehend 'die Welt umfassen', um eine 'Ahnung des Universums' zu vermitteln, kann es nur um den Preis geben, daß all die anderen Werke, ohne die es den Sinn nicht gäbe, der im Einzelwerk bedeutungsvoll kondensiert, wenigstens temporär vergessen werden. Ignoriert werden muß außerdem die Gewißheit - damit kommen wir nun endlich in Schlegels Einflußbereich -, daß unter dem Regime des Interessanten und Eigentümlichen "die moderne Poesie ... sich ... immer verändern" wird. "Das Neue wird alt, das Seltene gemein, und die Stachel des Reizenden werden stumpf." (KFSA 1, p.255 & p.223)
Individualität steigt also zur unverzichtbare Ressource für die interessante, aber nicht länger schöne Literatur der Moderne (cf. KFSA I, pp.217-276) auf, aber sie erlangt dabei keinen Eigenwert. Nur wenn mittels ihrer interessante Formen produziert werden, deren Neuheit Leser fasziniert, kommt ihnen im Zusammenhang der Autopoiesis literarischer Kommunikation der Stellenwert zu, den die Literaturprogramme immer schon behaupten. Aber, wäre den Zeitgenossen der Zusammenhang zwischen Individualität und moderner Literatur in der Form, wie er hier behauptet wird, einsichtig gewesen, die Motivationsquellen wären schnell versiegt. Die jeweiligen Erwartungen aneinander, die seitens des Literatursystems und der Personen als seiner Umwelt ausgebildet werden, dürfen durchaus illusionär sein und von den real erbrachten Leistungen füreinander abweichen. Allerdings, das gehört zu den Voraussetzungen systemtheoretischer Beschreibung, muß es für die Rekonstruktion klare Anhaltspunkte in der Selbstbeschreibung eines Systems geben, die zwar in einer nur vom Beobachter zu verantwortenden Rekombination anders formiert werden mögen, aber niemals, im Stile etwa eines Motivverdachts, einfach untergeschoben werden dürfen. Unter diesen Umständen, Individualitätssemantik und Ausdrucksparadigma einerseits - Reflexion der systemspezifischen Kommunikationsbedingungen andererseits, ist für eine so zentrale Systemstelle wie die der Rezeption eine doppelte Terminologie zu erwarten. Speisen sich die Lektüren aus den genannten Ressourcen ihrer Umwelt, ohne auf explizite Selbstreferenz zu verzichten, dann braucht ihre Beobachtung zwei Begriffe. Für das Problemfeld der Lektüre hat Friedrich Schlegel - etwas Abseits der hermeneutischen Kanonisierung Schleiermachers - solche Begriffe bereitgestellt: Charakteristik und Kritik.
Die zur Begriffskonfusion neigenden Fragmente Friedrich Schlegels - das gilt insbesondere für die nachgelassenen Fragmente - erzwingen eine doppelte Unterscheidung, die einerseits ihrer selbst nicht sicher zu sein scheint, andererseits aber - es sei denn man käme zu der Einschätzung, es handele sich um eine Fehlinterpretation - die dieser Selbstverunsicherung inhärente Problemlage genauestens abzubilden versucht. Friedrich Schlegels Begriff der Kritik nämlich operiert gleichzeitig auf zwei Ebenen, ohne daß er jeweils ausschließlich der einen oder anderen zuzuordnen wäre. Er ist einerseits Glied der Opposition Charakteristik vs. Kritik, andererseits aber fungiert er als Oberbegriff desselben Oppositionspaares (Kritik²) und regiert sozusagen in beide hinein. Ist die retrospektive Oppositionsbildung, zu analytischen Zwecken vorgenommen, nicht einfach falsch, so muß man fragen, ob die doppelte Differenz nicht von der Sache her berechtigt ist - und genau so erscheint es.
Die Kritik opponiert der Charakteristik zunächst einmal darin, daß diese das einzelne Werk als Totalität, gewissermaßen horizont-, geschichts- oder kontextlos in den Blick nehmen will, während jene das 'Werk' und sich selbst in einen weit ausgreifenden Zusammenhang gestellt sieht, dessen einzelne Bausteine nur als Fragment angesprochen werden können. Aus dem Kommunikationszusammenhang gleichsam herausgeschnitten, gilt die Aufmerksamkeit der Charakteristik nun wieder dem in der prätendierten Werktotalität gründenden "Eindruck des Schönen", der "so prosaisch als möglich" (KFSA 16, p.86) beschrieben und anderen Lesern zum Nachvollzug anempfohlen werden soll. Ganz im Dienste des ranghöheren Werkes bescheidet sie sich damit, selbst zur Prosa des Lebens zu zählen, nur damit die kurze Blüte sonntäglicher Poesie etwas prägnanter sich entfalte. Nicht daß die Charakteristik nur für Philister da sei, sie richtet sich durchaus an alle Arten von Personen, aber immer nur an Personen, die, was immer sie auch sonst tun, mit dem Werk nichts anderes machen, als es - sozial folgenlos - zu lesen. So heißt es etwa, es bedürfe "... nur eines vollständigen ungeteilten Menschen, der das Werk so lange als nötig ist, zum Mittelpunkt seiner Tätigkeit mache; wenn ein solcher mündliche oder schriftliche Mitteilung liebt, kann es ihm Vergnügen gewähren, eine Wahrnehmung, die im Grunde nur eine und unteilbar ist, weitläufig zu entwickeln, und so entsteht eine eigentliche Charakteristik." (KFSA 2, p.140; Hervorhebung MS.) Kritik dagegen will, ja muß selbst poetisch sein. "Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden." (KFSA 2, p.162) Aber das Poetische - die Betonung liegt auf poíesis - besteht nicht, obgleich Schlegel auch diese Möglichkeit einräumt (ibid.), in der äußeren Form, sondern in ihrer programmatischen Selbstverortung im Reproduktionsgeschehen literarischer Kommunikation. Kritik will nicht Leseerfahrung sein, sondern 'agent provocateur' für Anschlußkommunikationen - "progressive Kritik" (KFSA 16, p.138).
Auf dieser Ebene konkurrierender Leseprogramme ist die Adresse der Charakteristik das Leserbewußtsein, in dem der auf kommunikative Fortsetzung zielende Impuls durch die Selbstgenügsamkeit des Genusses gebrochen wird oder auch, so eine ethische Variante, in so etwas wie persönliche Erfahrung (allerdings aus zweiter Hand) transformiert wird. Nicht umsonst trägt die Charakteristik gerade diesen Namen: sie behandelt das Werk als Individuum ("Nur Individuen kann man charakterisieren ... ." KFSA 16, p.142) dessen nicht sofort einsichtigen Charakter man durch treue und 'gewissenhaft vielseitige' (ibid.) Beobachtung aus sich selbst erschließen kann, aber nicht durch Kontextualisierung. "Die Charakteristik ist nicht Historisch; sie betrachtet ihr Objekt als ruhend, als ein untheilbares Ganzes ..." (p.138) Und weil man genau hinsehen und sich hineinversetzen muß, in fremde Werke wie in andere Personen, gilt: "Man muß derselbe und doch ein anderer sein, um jemand charakterisieren zu können."(p.140)
Die Adresse der Kritik heißt Kommunikation. Der Konnex, den sie herstellt, ist der der Werke selbst. "Eigentlicher Gegenstand der Kritik sind nur Werke und Systeme von Werken, nicht Menschen."(p.141) Sie steht - selbst eine Art 'unvollkommener Poesie der Poesie' (cf., p.137) - im Dienste des unendlichen Fortschreitens der "progressiven Universalpoesie" (KFSA 2, p.182). Durch "Potenzierung" der Anschlußstellen, d.h. etwa durch Neuarrangement, durch Um- und Fortschreiben oder auch 'Verjüngung' des kritisierten Werkes (cf. KFSA 2, p.140) arbeitet sie mit an der programmatisch ausgeweiteten Inklusion all dessen, "was nur poetisch ist". Es ist laut Schlegel "... sehr inkonsequent, und klein, auch die langsamste und ausführlichste Zergliederung unnatürlicher Lüste, gräßliche Marter, empörender Infamie, ekelhafter sinnlicher oder geistiger Impotenz scheuen zu wollen" (KFSA 2, p.185), wie will man da dem Kritiker Restriktionen auferlegen. Alles ist erlaubt, was die "Lust am Text" zur Fortsetzung der Kommunikation beisteuert, sei es die Anknüpfung an bloße Stellen oder die gewissenhafte Zergliederung des Ganzen. Kritik im Sinne Schlegels, das hat Walter Benjamin in aller Deutlichkeit herausgestellt, will Kapazitäten erweitern, Potentiale steigern ("Potenzieren") und nicht restringieren. Das unterscheidet sie wesentlich von ihrem späteren Begriff: "es ist ... in ihr ein notwendiges Moment aller Beurteilung, das Negative, durchaus verkümmert." (Benjamin, "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik", p.66)
Damit kommt nun auch die Charakteristik wieder ins Spiel. Erstens - von der Selbstbeschreibungssemantik her - ist schließlich alles erlaubt, zweitens und viel wichtiger, die Charakteristik ist, nicht was sie sagt: sie spricht von Bewußtsein, von Wahrnehmung und ist doch selbst Kommunikation. Auch sie betreibt aus der übergeordneten Perspektive eines Oberbegriffs 'Kritik²', der die konkurrierenden Leseprogramme umfaßt, Kritik, d.h. sie ist Stimulus literarischer Kommunikation - andernfalls wüßten wir gar nichts von ihr -, aber unter dem Deckmantel ihrer programmatischen Ausrichtung auf die Lektüre individueller Werktotalität leugnet sie das und verwirrt ihre Exegeten (cf. Menninghaus, Unendliche Verdopplung, p.259). Obwohl die Charakteristik, wenigstens in der gattungsstiftenden Arbeit Über Goethes Meister (1801 u.d.T. Charakteristik des Wilhelm Meister), ihre eigene Form reflektiert (cf. KFSA 2, p.140 (s.o.)) und damit Schlegels Anspruch an "Transzendentalpoesie", die "das Produzierende mit dem Produkt" darzustellen habe (KFSA 2, p.204), genügt, bleibt sie hinter der übergeordneten Kritik², die auf den ganzen Evolutionszusammenhang der Literatur, mit ihrem Systemgedächtnis und den Medienbedingungen referiert, zurück. Das hat ihr, insofern zu Recht, auch gegen die unbestrittene Bedeutung ihres Exempels, den Vorwurf der Zweitrangigkeit eingebracht (Benjamin, p.69 & Fn. 177). Dennoch heißt das nicht, daß sie hinsichtlich der Stimulation von Anschlußkommunikationen wirklich zweitrangig wäre. Schlegel betont ausdrücklich, auch "eine Charakteristik ist ein Kunstwerk der Kritik ..." (KFSA 2, p.253), nur verschleiert sie absichtsvoll, daß sie davon weiß. So kann Schlegel dem Wilhelm Meister einerseits eine umfassende Charakteristik widmen und andererseits in einem berühmten Fragment erklären, das Werk sei eine der "... größten Tendenzen des Zeitalters."(KFSA 2, p.198)
Nur vermuten läßt sich, daß umgekehrt auch die Kritik, mag sie sich selbst auch ausdrücklich als kommunikativ produktiv - als Kunst, resp. Poesie - verstehen, sich gerne auch mal im Werk verlieren darf, ohne immer den vollen Überblick zu behalten, über das was sie da tut. Zur Unterscheidung ihrer von der Charakteristik mag die Differenz ihrer expliziten Adressierung ausreichen. Erst die eigentliche Kritik², Schlegel nennt sie manchmal "absolute Kritik" und spricht ihr transzendentalen Status zu (KFSA 16, p.139; p.160), stellt eine neue Beobachtungsqualität her. Diese versteift sich aber nun nicht zu einem eigenen Programm, sondern infiziert die erörterten Lektürepraktiken mit weiteren Reflexionsdimensionen, die weniger in der Charakteristik und eher in der Kritik sichtlich Niederschlag finden. Deshalb läßt sich nicht immer klar und deutlich unterscheiden, wovon Schlegel spricht, wenn er die Termini Kritik, kritisch etc. gebraucht.
Der Ansatzpunkt dieser 'höheren Kritik'² ist die Unterscheidung zwischen Buchstabe und Geist eines Werkes, die seit der philosophischen Aufwertung der Kunstkritik durch Gottsched und 'die Schweizer' (cf. Weber, Friedrich Schlegels >Transzendentalphilosophie<, pp.26-39) zu den Topoi des Diskurses zählt. Geist meint dabei für Friedrich Schlegel keine numinose Qualität, sondern die Befreiung von den Fesseln philologischer Buchstäblichkeit (cf. seine Fragmente Zur Philologie, KFSA 16, pp.35-81) zugunsten einer wirkungsgeschichtlich offenen Interpretation. Hinsichtlich der rückwärtig perspektivierten Formierung des Systemgedächtnisses heißt das, "... nicht von vorn anzufangen, sondern sich in anknüpfender Aufnahme an vorangegangenes anzuschließen und in ein laufendes Kommunikationsgeschehen einzuschalten" (Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, pp.282), das die Bearbeitung des Überlieferten sukzessive variiert. Signifikant sind dabei die Aufmerksamkeit für das Paradox des Übertragungsmediums Schrift und die Umwertung des Begriffs der Klassik. Gerade die schwarzweiße Fixiertheit der Schrift, die innerhalb des Paradigmas der Nachahmung auf regelrechtes Nachbuchstabieren verpflichtet - so wenigstens die Anweisung der älteren Poetik - wird zum Quell von Abweichung und Innovation umgedeutet. Der Buchstabe kann dann "ein wahrer Zauberstab" heißen, weil er, indem er den Akt des Schreibens unendlich zu überdauern vermag und die Notwendigkeit interaktiver Präsenz obsolet werden läßt, die Autorität der Autorschaft abschüttelt und den Geist flexibilisiert. Wie allein die Praxis der Bibelauslegung den Zeitgenossen demonstriert hatte, erlauben identische Buchstabenkombinationen ganz divergierende 'Exegesen'. Das klassische Werk heißt dementsprechend nicht mehr klassisch, weil es Vorbildcharakter hat, sondern weil es einer unendlichen Interpretation offensteht. Stoff der Kritik² kann "... nur das Klassische und schlechthin Ewige sein ..., was nie ganz verstanden werden mag"(KFSA 2, p.241) und deshalb immer wieder von neuem, d.h. "... cyclisch studi[e]rt werden muß." (KFSA 16, p.139) Das Systemgedächtnis kommt in keinerlei Hinsicht jemals zu definitiven Beobachtungen; solange etwas noch interessiert, wird es unter den Bedingungen der Moderne auch variiert werden (cf. KFSA 2, pp.284-287), egal ob die Programme Vollkommenheit oder Fragmentarität propagieren.
Schlegel macht es seinen Lesern schwer damit, daß er seine Begriffe so offen hält, aber er widerspricht sich (wenigstens im Horizont der vorliegenden Interpretation) nicht, wenn er auch die Charakteristik wiederholt kritisch nennt und an den guten Kritiker die gleichen Anforderungen stellt wie an den guten Charakteristiker (cf. KFSA 16, p.138). Beide müssen erst einmal genau lesen, bevor sie ihre programmatisch unterschiedlichen Lektüren zur Diskussion freigeben. Doch wie wir nun wissen, ist das nicht die einzige Gemeinsamkeit. Mögen die Lektüren die Losung Kommunikation oder Bewußtsein ausgeben, vor der evolutionären Offenheit des Systems und der mit jeder Gegenwart variierten Form seines Gedächtnisses bleibt jede Operation im Medium des Sinns unvollkommen. Die Charakteristik bleibt "Skizze" (KFSA 16, p.163), die Kritik Fragment. In beiden Fällen, das reflektiert der übergeordnete Begriff der Kritik², wird damit aber kein Mangel bezeichnet, sondern die Möglichkeit von Zukunft.

Literatur

Friedrich Schlegel wurde unter Angabe von Band und Seitenzahl nach der als 'KFSA' abgekürzten Kritischen-Friedrich Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. E. Behler u.a., Paderborn u.a. 1958ff., zitiert.
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. München 1992
Dirk Baecker, Die Adresse der Kunst. In: Fohrmann/Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur, München 1986.
Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: ders., Gesammelte Schriften I.1, Frankfurt/M. 1991.
Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Tübingen ²1980.
Niklas Luhmann, Ist Kunst codierbar? In: ders., Soziologiosche Aufklärung 3, Opladen 1981.
Ders., Soziologische Aufklärung 6. Opladen 1995.
Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung. Frankfurt/M.1987.
Heinz-Dieter Weber, Friedrich Schlegels "Transzendentalphilosophie". München 1973.
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. In: ders., Werke 1, Frankfurt/M. 1984.