Lesen ist nicht Sagen. Kein Leser kann sich
sicher sein, gelesen zu haben, was er in seiner Lektüre sagt. Mit dem Eintritt des
lesenden Bewußtseins in den Zusammenhang der Kommunikation verändern sich alle
Koordinaten der weiteren Bezugnahme. Thematisierbar ist diese Differenz von Lesen und
Sagen, oder allgemeiner von Bewußtsein und Kommunikation, freilich nur innerhalb eines
Kommunikationszusammenhanges, aber sie wird dadurch nicht hinfällig. Vielmehr zeigen sich
bekanntlich gerade innerhalb der Kunstkommunikation signifikante Unterschiede, je nachdem
ob die jeweiligen Beiträge die von ihnen beobachteten Werke als Anlässe ästhetischer
Erfahrung oder als Kommunikationsofferten vorstellen.
Der folgende Artikel legt die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation (vgl.
Luhmann, Soziologische Aufklärung 6) der Beobachtung des formal wenig
spezifizierten Genres der Kunstkritik zu grunde und versucht, in der doppelten
Begrifflichkeit Friedrich Schlegels erste Spuren ihrer Reflexion zu entziffern. Wenn im
folgenden also von 'Kritik' die Rede ist, so geht es immer nur um Kunstkritik im engeren
Sinne; daß auch F. Schlegel den philosophischen und alltagssprachlichen Begriffsgebrauch
kennt, bleibt dabei bewußt, kann aber an dieser Stelle nicht eigens thematisiert werden.
Zunächst aber ganz allgemein: An ihre Leseerfahrungen können nur dieselben
Personen wieder anschließen, während Kommunikationen (Lektüren), in denen Erfahrungen
aus der Immanenz des Bewußtseins ins Forum vielfacher Beobachtung treten, ganz
unterschiedliche Fortsetzungen erlauben, zumal wenn sie sich Trägermedien anvertrauen,
die die Zeit der Äußerung lange zu überdauern vermögen. Die Privatheit von
Bewußtseinsprozessen schließt aber nicht nur die Teilnahme jeder anderen Person aus,
sondern läßt das jeweilige Bewußtsein in ganz anderer Form prozessieren als sich
öffentliche Kommunikation vollzieht. Die Gedanken anläßlich der Lektüre von gestern
etwa bleiben zwar Dank der "Retentionen" des "inneren
Zeitbewußtseins" (Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins)
von einem Hof von Gestrigkeit umgeben, ob sie aber in der aktiven Erinnerung so
repräsentiert werden, wie sie sich gestern präsentiert haben, das kann niemals geklärt
werden. Denkbar wäre, davon behält man doch wenigstens eine Ahnung, daß die spätere
Erinnerung z.B. hinsichtlich von Erkenntnis weiterführt, als das gestern möglich gewesen
wäre, aber an Faszinationskraft einbüßt (und umgekehrt). In keinem Fall jedoch kommen
die Prozesse aus dem Verlauf des Zeitbewußtseins heraus, das den status quo
jeder Leseerfahrung, jeder bewußtseinsmäßigen Bezugnahme auf Texte, mit der Sukzession
des je Gegenwärtigen beständig verschiebt und jeden status quo ante
verschüttet.
Im Bewußtsein kann es mithin keine Konflikte zwischen Lektüren geben, die
wirklich Sinn machen. Man kann im Kopf sekundäre Auslegungsfragen hin und her wälzen,
aber man kann sich nicht mit sich selbst über seine Leseeindrücke streiten, weil sich
mit jedem Konfliktpunkt die Basis der Diskussion verschöbe. Denn aus der Vergangenheit
des eigenen Bewußtseins die Eindrücke des Vortags zurückzuholen, um sie denen der
Gegenwart vergleichend gegenüberzustellen, ist schlechthin unmöglich. (Vgl. dazu
Wittgensteins Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Schmerzempfindungen in seinen Philosophischen
Untersuchungen.) Ganz anders im Zusammenhang der Kommunikation, insbesondere der
schriftlichen Kommunikation, die sich gerade im Konflikt der Ansichten selbst
reproduziert. Hier kann gestritten werden, weil unabhängig von Rücksichten auf
Bewußtseinsimmanenz zwar das Vergehen von Zeit nicht getilgt werden kann, aber die
Fortsetzung in der Zeit gerade durch Wiederaufnahme vergangener Problemstellungen gelingt.
An den Ausgangspunkt der Konflikte, den Text und seine ebenfalls textförmigen
Interpretationen, kann immer wieder zurückgekehrt und der Gang der Sache, mit allen
positiven wie negativen Impulsen, durch überliefertes Wissen neu verfolgt werden.
Wir wissen nicht, was in der schwarzen Kammer des Bewußtseins (zumal der anderen)
vor sich geht, aber nach dem Gesagten können wir doch sicher sein, daß all die
Lineaturen - neue Texte, Datenstreifen, Amplitudenfolgen -, die als disziplinspezifische
Repräsentationen der Transformationen von Leseerfahrung auftreten mögen, nur sehr
unvollkommene Übersetzungen dieser Erfahrung darstellen. Kommunikation setzt zwar
Bewußtsein voraus und natürlich operieren beide im Medium des Sinns, aber anstatt
einander zu repräsentieren, folgen beide nur der Eigenlogik ihrer Operationen. Das
reflektieren, nebenbei bemerkt, die philosophischen Attacken gegen den Psychologismus in
der Erkenntnistheorie ebenso wie der literaturwissenschaftliche Einspruch gegen die bloße
Explikation von Lektüreerlebnissen. Es gibt keinen Grund, beim Erlebnis stehenzubleiben,
wenn seine Versprachlichung immer schon mehr (und vielleicht auch weniger) als Erlebnis
ist - jedenfalls etwas anderes. Das letzte Kapitel von James Joyce' Ulysses
hat seinen Ruhm wohl kaum als Mimetik eines Bewußtseins erlangt, sondern durch
literarische Forminnovation.
Dennoch gibt es Erlebnisse. Wie auch immer sie in ihrer Unvergleichbarkeit sich je
konkret ausprägen mögen, jedes Einzelne bürgt für sich selbst durch eine Art stets
mitlaufender Evidenzerfahrung, deren Intensitätsvorsprung vor den Mitteilungen und
Informationen anderer eine unverzichtbare "Motivationsressource" (Luhmann, Ist
Kunst codierbar? p.258) für Kommunikationsofferten darstellt. Es ist deshalb kein
Zufall, daß gerade die anlaufende Selbstorganisation des Literatursystems eine bis dahin
ungekannte Semantik der Individualität und des Selbstausdrucks prägt, die eine nur im
Medium der Künste gelingende Repräsentation genuin persönlichen Erlebens verspricht
(sei es auch im Modus des Scheiterns) und Autor wie Leserschaft an die genannten
Ressourcen anschließt. Beispielhaft sind dafür einerseits die Redseligkeit, mit der -
individuum est ineffabile - Individualität unter dem negativen Vorzeichen ihrer
Irrepräsentabilität kommuniziert wird und andererseits das aus diesen Erfahrungen
gespeiste Ringen um eine Sprachkonzeption, die den Makel der Arbitrarität der Zeichen
tilgen will. Weiterhin büßen die poetologischen Begriffe an Technizität ein, um
verstärkt Bedeutungen aus dem Diskurs der Seele und der als schöpferisch verstandenen
Natur aufzunehmen. Es geht dabei nicht darum, die ökologische Differenz von Kommunikation
und Bewußtsein zu überbrücken, sondern im Gegenteil wird die Differenz auf Seiten der
Kommunikation wieder eingeführt. Im selben Zuge wird ein Bezugsproblem gewonnen, das
einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Selbstreproduktion des
Kommunikationszusammenhangs verspricht. Angetrieben durch das Problem, Individualität im
kollektiven Medium 'Sprache' darstellen zu wollen, evoluiert eine neue literarische
Formensprache, die - wie auch immer man das dahinterstehende Programm einschätzen mag -
die Literatur als Literatur, als Sprachkunst, interessant macht. Die Erfolgsgeschichte der Authentizität und des Erlebnisses einer von externen
Leistungserwartungen freigestellten Literatur ist demnach nichts weniger als ein
Mißverständnis, etwa ihrer operationalen Konditionen, aber es gehört zu ihrer
Merkwürdigkeit, wie die in Gang gesetzte, wenigstens aber stark beschleunigte
Formenevolution einerseits und die Individualitätssemantik andererseits sich in ihren
Selbstbeschreibungen gegenseitig mehr oder weniger konsequent ausblenden. Individualität,
die doch nur aus sich sprechen will, wird lesbar nur als Abweichung von Bekanntem. Werke
im emphatischen Sinn, die monolithisch dastehend 'die Welt umfassen', um eine
'Ahnung des Universums' zu vermitteln, kann es nur um den Preis geben, daß all die
anderen Werke, ohne die es den Sinn nicht gäbe, der im Einzelwerk bedeutungsvoll
kondensiert, wenigstens temporär vergessen werden. Ignoriert werden muß außerdem die
Gewißheit - damit kommen wir nun endlich in Schlegels Einflußbereich -, daß unter dem
Regime des Interessanten und Eigentümlichen "die moderne Poesie ... sich ... immer
verändern" wird. "Das Neue wird alt, das Seltene gemein, und die Stachel des
Reizenden werden stumpf." (KFSA 1, p.255 & p.223) Individualität steigt also zur unverzichtbare Ressource für die interessante,
aber nicht länger schöne Literatur der Moderne (cf. KFSA I, pp.217-276) auf, aber sie
erlangt dabei keinen Eigenwert. Nur wenn mittels ihrer interessante Formen produziert
werden, deren Neuheit Leser fasziniert, kommt ihnen im Zusammenhang der Autopoiesis
literarischer Kommunikation der Stellenwert zu, den die Literaturprogramme immer schon
behaupten. Aber, wäre den Zeitgenossen der Zusammenhang zwischen Individualität und
moderner Literatur in der Form, wie er hier behauptet wird, einsichtig gewesen, die
Motivationsquellen wären schnell versiegt. Die jeweiligen Erwartungen aneinander, die
seitens des Literatursystems und der Personen als seiner Umwelt ausgebildet werden,
dürfen durchaus illusionär sein und von den real erbrachten Leistungen füreinander
abweichen. Allerdings, das gehört zu den Voraussetzungen systemtheoretischer
Beschreibung, muß es für die Rekonstruktion klare Anhaltspunkte in der
Selbstbeschreibung eines Systems geben, die zwar in einer nur vom Beobachter zu
verantwortenden Rekombination anders formiert werden mögen, aber niemals, im Stile etwa
eines Motivverdachts, einfach untergeschoben werden dürfen. Unter diesen Umständen,
Individualitätssemantik und Ausdrucksparadigma einerseits - Reflexion der
systemspezifischen Kommunikationsbedingungen andererseits, ist für eine so zentrale
Systemstelle wie die der Rezeption eine doppelte Terminologie zu erwarten. Speisen sich
die Lektüren aus den genannten Ressourcen ihrer Umwelt, ohne auf explizite Selbstreferenz
zu verzichten, dann braucht ihre Beobachtung zwei Begriffe. Für das Problemfeld der
Lektüre hat Friedrich Schlegel - etwas Abseits der hermeneutischen Kanonisierung
Schleiermachers - solche Begriffe bereitgestellt: Charakteristik und Kritik. Die zur Begriffskonfusion neigenden Fragmente Friedrich Schlegels - das gilt
insbesondere für die nachgelassenen Fragmente - erzwingen eine doppelte Unterscheidung,
die einerseits ihrer selbst nicht sicher zu sein scheint, andererseits aber - es sei denn
man käme zu der Einschätzung, es handele sich um eine Fehlinterpretation - die dieser
Selbstverunsicherung inhärente Problemlage genauestens abzubilden versucht. Friedrich
Schlegels Begriff der Kritik nämlich operiert gleichzeitig auf zwei Ebenen, ohne daß er
jeweils ausschließlich der einen oder anderen zuzuordnen wäre. Er ist einerseits Glied
der Opposition Charakteristik vs. Kritik, andererseits aber fungiert er als Oberbegriff
desselben Oppositionspaares (Kritik²) und regiert sozusagen in beide hinein. Ist die
retrospektive Oppositionsbildung, zu analytischen Zwecken vorgenommen, nicht einfach
falsch, so muß man fragen, ob die doppelte Differenz nicht von der Sache her berechtigt
ist - und genau so erscheint es.
Die Kritik opponiert der Charakteristik zunächst einmal darin, daß diese
das einzelne Werk als Totalität, gewissermaßen horizont-, geschichts- oder kontextlos in
den Blick nehmen will, während jene das 'Werk' und sich selbst in einen weit
ausgreifenden Zusammenhang gestellt sieht, dessen einzelne Bausteine nur als Fragment
angesprochen werden können. Aus dem Kommunikationszusammenhang gleichsam
herausgeschnitten, gilt die Aufmerksamkeit der Charakteristik nun wieder dem in der
prätendierten Werktotalität gründenden "Eindruck des Schönen", der "so
prosaisch als möglich" (KFSA 16, p.86) beschrieben und anderen Lesern zum
Nachvollzug anempfohlen werden soll. Ganz im Dienste des ranghöheren Werkes bescheidet
sie sich damit, selbst zur Prosa des Lebens zu zählen, nur damit die kurze Blüte
sonntäglicher Poesie etwas prägnanter sich entfalte. Nicht daß die Charakteristik nur
für Philister da sei, sie richtet sich durchaus an alle Arten von Personen, aber immer
nur an Personen, die, was immer sie auch sonst tun, mit dem Werk nichts anderes machen,
als es - sozial folgenlos - zu lesen. So heißt es etwa, es bedürfe "... nur eines
vollständigen ungeteilten Menschen, der das Werk so lange als nötig ist, zum Mittelpunkt
seiner Tätigkeit mache; wenn ein solcher mündliche oder schriftliche Mitteilung liebt,
kann es ihm Vergnügen gewähren, eine Wahrnehmung, die im Grunde nur eine und
unteilbar ist, weitläufig zu entwickeln, und so entsteht eine
eigentliche Charakteristik." (KFSA 2, p.140; Hervorhebung MS.) Kritik
dagegen will, ja muß selbst poetisch sein. "Poesie kann nur durch Poesie kritisiert
werden." (KFSA 2, p.162) Aber das Poetische - die Betonung liegt auf poíesis -
besteht nicht, obgleich Schlegel auch diese Möglichkeit einräumt (ibid.), in der
äußeren Form, sondern in ihrer programmatischen Selbstverortung im
Reproduktionsgeschehen literarischer Kommunikation. Kritik will nicht Leseerfahrung sein,
sondern 'agent provocateur' für Anschlußkommunikationen - "progressive
Kritik" (KFSA 16, p.138). Auf dieser Ebene konkurrierender Leseprogramme ist die Adresse der Charakteristik
das Leserbewußtsein, in dem der auf kommunikative Fortsetzung zielende Impuls durch die
Selbstgenügsamkeit des Genusses gebrochen wird oder auch, so eine ethische Variante, in
so etwas wie persönliche Erfahrung (allerdings aus zweiter Hand) transformiert wird.
Nicht umsonst trägt die Charakteristik gerade diesen Namen: sie behandelt das Werk als
Individuum ("Nur Individuen kann man charakterisieren ... ." KFSA 16, p.142)
dessen nicht sofort einsichtigen Charakter man durch treue und 'gewissenhaft
vielseitige' (ibid.) Beobachtung aus sich selbst erschließen kann, aber nicht durch
Kontextualisierung. "Die Charakteristik ist nicht Historisch; sie betrachtet ihr
Objekt als ruhend, als ein untheilbares Ganzes ..." (p.138) Und weil man genau
hinsehen und sich hineinversetzen muß, in fremde Werke wie in andere Personen, gilt:
"Man muß derselbe und doch ein anderer sein, um jemand charakterisieren zu
können."(p.140) Die Adresse der Kritik heißt Kommunikation. Der Konnex, den sie herstellt,
ist der der Werke selbst. "Eigentlicher Gegenstand der Kritik sind nur Werke und
Systeme von Werken, nicht Menschen."(p.141) Sie steht - selbst eine Art
'unvollkommener Poesie der Poesie' (cf., p.137) - im Dienste des unendlichen
Fortschreitens der "progressiven Universalpoesie" (KFSA 2, p.182). Durch
"Potenzierung" der Anschlußstellen, d.h. etwa durch Neuarrangement, durch Um-
und Fortschreiben oder auch 'Verjüngung' des kritisierten Werkes (cf. KFSA 2,
p.140) arbeitet sie mit an der programmatisch ausgeweiteten Inklusion all dessen,
"was nur poetisch ist". Es ist laut Schlegel "... sehr inkonsequent, und
klein, auch die langsamste und ausführlichste Zergliederung unnatürlicher Lüste,
gräßliche Marter, empörender Infamie, ekelhafter sinnlicher oder geistiger Impotenz
scheuen zu wollen" (KFSA 2, p.185), wie will man da dem Kritiker Restriktionen
auferlegen. Alles ist erlaubt, was die "Lust am Text" zur Fortsetzung der
Kommunikation beisteuert, sei es die Anknüpfung an bloße Stellen oder die gewissenhafte
Zergliederung des Ganzen. Kritik im Sinne Schlegels, das hat Walter Benjamin in aller
Deutlichkeit herausgestellt, will Kapazitäten erweitern, Potentiale steigern
("Potenzieren") und nicht restringieren. Das unterscheidet sie wesentlich von
ihrem späteren Begriff: "es ist ... in ihr ein notwendiges Moment aller Beurteilung,
das Negative, durchaus verkümmert." (Benjamin, "Der Begriff der Kunstkritik in
der deutschen Romantik", p.66) Damit kommt nun auch die Charakteristik wieder ins Spiel. Erstens - von der
Selbstbeschreibungssemantik her - ist schließlich alles erlaubt, zweitens und viel
wichtiger, die Charakteristik ist, nicht was sie sagt: sie spricht von Bewußtsein, von
Wahrnehmung und ist doch selbst Kommunikation. Auch sie betreibt aus der übergeordneten
Perspektive eines Oberbegriffs 'Kritik²', der die konkurrierenden Leseprogramme
umfaßt, Kritik, d.h. sie ist Stimulus literarischer Kommunikation - andernfalls wüßten
wir gar nichts von ihr -, aber unter dem Deckmantel ihrer programmatischen Ausrichtung auf
die Lektüre individueller Werktotalität leugnet sie das und verwirrt ihre Exegeten (cf.
Menninghaus, Unendliche Verdopplung, p.259). Obwohl die Charakteristik,
wenigstens in der gattungsstiftenden Arbeit Über Goethes Meister (1801 u.d.T. Charakteristik
des Wilhelm Meister), ihre eigene Form reflektiert (cf. KFSA 2, p.140 (s.o.)) und
damit Schlegels Anspruch an "Transzendentalpoesie", die "das Produzierende
mit dem Produkt" darzustellen habe (KFSA 2, p.204), genügt, bleibt sie hinter der
übergeordneten Kritik², die auf den ganzen Evolutionszusammenhang der Literatur, mit
ihrem Systemgedächtnis und den Medienbedingungen referiert, zurück. Das hat ihr,
insofern zu Recht, auch gegen die unbestrittene Bedeutung ihres Exempels, den Vorwurf der
Zweitrangigkeit eingebracht (Benjamin, p.69 & Fn. 177). Dennoch heißt das nicht, daß
sie hinsichtlich der Stimulation von Anschlußkommunikationen wirklich zweitrangig wäre.
Schlegel betont ausdrücklich, auch "eine Charakteristik ist ein Kunstwerk der Kritik
..." (KFSA 2, p.253), nur verschleiert sie absichtsvoll, daß sie davon weiß. So
kann Schlegel dem Wilhelm Meister einerseits eine umfassende Charakteristik
widmen und andererseits in einem berühmten Fragment erklären, das Werk sei eine der
"... größten Tendenzen des Zeitalters."(KFSA 2, p.198) Nur vermuten läßt sich, daß umgekehrt auch die Kritik, mag sie sich selbst auch
ausdrücklich als kommunikativ produktiv - als Kunst, resp. Poesie - verstehen, sich gerne
auch mal im Werk verlieren darf, ohne immer den vollen Überblick zu behalten, über das
was sie da tut. Zur Unterscheidung ihrer von der Charakteristik mag die Differenz ihrer
expliziten Adressierung ausreichen. Erst die eigentliche Kritik², Schlegel nennt sie
manchmal "absolute Kritik" und spricht ihr transzendentalen Status zu (KFSA 16,
p.139; p.160), stellt eine neue Beobachtungsqualität her. Diese versteift sich aber nun
nicht zu einem eigenen Programm, sondern infiziert die erörterten Lektürepraktiken mit
weiteren Reflexionsdimensionen, die weniger in der Charakteristik und eher in der Kritik
sichtlich Niederschlag finden. Deshalb läßt sich nicht immer klar und deutlich
unterscheiden, wovon Schlegel spricht, wenn er die Termini Kritik, kritisch etc.
gebraucht. Der Ansatzpunkt dieser 'höheren Kritik'² ist die Unterscheidung
zwischen Buchstabe und Geist eines Werkes, die seit der philosophischen Aufwertung der
Kunstkritik durch Gottsched und 'die Schweizer' (cf. Weber, Friedrich Schlegels
>Transzendentalphilosophie<, pp.26-39) zu den Topoi des Diskurses zählt.
Geist meint dabei für Friedrich Schlegel keine numinose Qualität, sondern die Befreiung
von den Fesseln philologischer Buchstäblichkeit (cf. seine Fragmente Zur Philologie,
KFSA 16, pp.35-81) zugunsten einer wirkungsgeschichtlich offenen Interpretation.
Hinsichtlich der rückwärtig perspektivierten Formierung des Systemgedächtnisses heißt
das, "... nicht von vorn anzufangen, sondern sich in anknüpfender Aufnahme an
vorangegangenes anzuschließen und in ein laufendes Kommunikationsgeschehen
einzuschalten" (Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, pp.282), das die
Bearbeitung des Überlieferten sukzessive variiert. Signifikant sind dabei die
Aufmerksamkeit für das Paradox des Übertragungsmediums Schrift und die Umwertung des
Begriffs der Klassik. Gerade die schwarzweiße Fixiertheit der Schrift, die innerhalb des
Paradigmas der Nachahmung auf regelrechtes Nachbuchstabieren verpflichtet - so wenigstens
die Anweisung der älteren Poetik - wird zum Quell von Abweichung und Innovation
umgedeutet. Der Buchstabe kann dann "ein wahrer Zauberstab" heißen, weil er,
indem er den Akt des Schreibens unendlich zu überdauern vermag und die Notwendigkeit
interaktiver Präsenz obsolet werden läßt, die Autorität der Autorschaft abschüttelt
und den Geist flexibilisiert. Wie allein die Praxis der Bibelauslegung den Zeitgenossen
demonstriert hatte, erlauben identische Buchstabenkombinationen ganz divergierende
'Exegesen'. Das klassische Werk heißt dementsprechend nicht mehr klassisch,
weil es Vorbildcharakter hat, sondern weil es einer unendlichen Interpretation offensteht.
Stoff der Kritik² kann "... nur das Klassische und schlechthin Ewige sein ..., was
nie ganz verstanden werden mag"(KFSA 2, p.241) und deshalb immer wieder von neuem,
d.h. "... cyclisch studi[e]rt werden muß." (KFSA 16, p.139) Das
Systemgedächtnis kommt in keinerlei Hinsicht jemals zu definitiven Beobachtungen; solange
etwas noch interessiert, wird es unter den Bedingungen der Moderne auch variiert werden
(cf. KFSA 2, pp.284-287), egal ob die Programme Vollkommenheit oder Fragmentarität
propagieren. Schlegel macht es seinen Lesern schwer damit, daß er seine Begriffe so offen
hält, aber er widerspricht sich (wenigstens im Horizont der vorliegenden Interpretation)
nicht, wenn er auch die Charakteristik wiederholt kritisch nennt und an den guten Kritiker
die gleichen Anforderungen stellt wie an den guten Charakteristiker (cf. KFSA 16, p.138).
Beide müssen erst einmal genau lesen, bevor sie ihre programmatisch unterschiedlichen
Lektüren zur Diskussion freigeben. Doch wie wir nun wissen, ist das nicht die einzige
Gemeinsamkeit. Mögen die Lektüren die Losung Kommunikation oder Bewußtsein ausgeben,
vor der evolutionären Offenheit des Systems und der mit jeder Gegenwart variierten Form
seines Gedächtnisses bleibt jede Operation im Medium des Sinns unvollkommen. Die
Charakteristik bleibt "Skizze" (KFSA 16, p.163), die Kritik Fragment. In beiden
Fällen, das reflektiert der übergeordnete Begriff der Kritik², wird damit aber kein
Mangel bezeichnet, sondern die Möglichkeit von Zukunft.
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