Noch immer
ist eine Frage unbeantwortet, die sich jedes Jahr aufs Neue stellt anläßlich der
allherbstlichen LeseZeit zwischen Meersburger Sonnenhalde und Frankfurter Messehalle:
"Wer soll das alles lesen?". Das ist - auf Seiten der Aisthesis - eine wichtige
Frage, wichtiger als die erneute Untersuchung der Einflüsse von Stimulantien auf der
Basis vergorenen Traubenmostes auf die Poiesis. Ungezählt die Untersuchungen von
Griechen- bis Irland: "Was trinkt der Dichter?"; "Wann gebricht es ihm
warum woran?" Fragen, die auch traditionelle Kontextforschung bisher nicht
befriedigend erhellen konnte. Eine posthermeneutische Rezeptionsästhetik kann
aber – ob der Konstanzer Schule und ihrem 'Bürgertröpfle' verpflichtet
oder nicht – am Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr mit der zitierten Emphase ein
Lesersubjekt in den Mittelpunkt eines Besinnungsaufsatzes zur
'Lektüre' stellen: Für diss.sense lautet die Leitfrage über die diesem
Aufsatz titelgebende von "Wer soll das alles lesen?" entsprechend also auch:
"Wie (um alles in der Welt!) soll das alles gelesen werden?" Für das System Literatur gilt: Alles, was auf dem
Buchmarkt ist, kann und soll gelesen werden. Und alle, die auf dem Markt literarischer
Eitelkeiten herumstehen, wollen beachtet sein. So kommt es, daß sich auch
Friedenspreisträger am Ende eines ertragreichen Lebens mit Uhldinger Pfuhlweisheiten zu
dem ihnen erteilten Wort melden. Herbstzeit ist Buchmessenzeit ist Erntezeit.(1) Während die Önologen zum
Oechslegradmessen in die Weinberge geschickt werden, auf daß sie den rechten Zeitpunkt
zum Lesen bestimmen mögen, strömen die Damen und Herren Ökonomen an den Main, um ihre
fertigen Produkte an die Leser zu bringen. Schon hier regt sich raunender Widerspruch: Ist
der (Buch-)Leser wirklich nur der Konsument, passiver Endverbraucher dessen, was zu lesen
nur vorgesetzt wird? Ist nicht der eigentliche Produktionsprozess der aisthetische
zwischen Buch, Lampe und Leser? Bei Roland Barthes heißt es im ersten Kapitel von S/Z:
Notre littérature est marquée par le divorce
impitoyable que l' institution littéraire maintient entre le fabricant et l'
usager du texte, son propriétaire et son client, son auteur et son lecteur. Ce lecteur
est alors plongé dans une sorte d' oisiveté, d' intransitivité, et, pour tout
dire, de sérieux: au lieu de jouer lui-meme, d' accéder pleinement à
l' enchantement du signifiant, à la volupté de l' écriture, il ne lui reste
plus en partage que la pauvre liberté de recevoir ou de rejeter le texte.
(2)
Es gibt wenige schreibbare (scriptible) und viele
lesbare (lisible) Bücher in diesem speziellen Barthesschen Sinne. Und daran ändern auch
die Neuerscheinungsmassen wenig. Das korrespondiert mit den den KonsumentInnen
vorgesetzten genießbaren und ungenießbaren Weinen. Hier wie dort ist der
Inkorporierungsakt des rein passiven Konsumenten kaum mehr als befriedigend. Unsere Frage
aber beantwortet Barthes nicht: Soll ein nur lisibler Text im vollen Bewußtsein seiner
Minderwertigkeit kritisch konsumiert oder gleich weggeschüttet werden? Und auch Michel de
Certeaus Feststellung müßte eigentlich umgekehrt werden. Er schreibt:
Innerhalb des Konsums ist die Lektüre nur ein
Teilaspekt, der allerdings grundlegend ist. (3)
Grundlegend ist vielmehr in beiden Systemen der
Konsum, wenn er auch für alle, die die Frage "Wie (um Himmels willen !) soll das
alles gelesen werden?" beantworten wollen, nur Teilaspekt sein kann: Der erste
Schritt, bevor Lektüre kompliziert und Trank berauschend wird. Oder umgekehrt. Der Konsument als aufgeklärter Zeitgenosse
verlangt dabei in beiden Genuß-systemen ein optimales Preis-/Leistungsverhältnis. So
wählt er (im selbstverständlich immer angenommenen Idealfall...) als autonomes Subjekt
die Lese-Objekte aus, wobei er auf die Qualität und Reinheit (Puristen werden sich vor
Gspritzten hüten) der Gattung oder (Reb-)Sorte ebenso achtet wie auf den richtigen
Zeitpunkt der Lese. Hierbei sind die von Wolfgang Iser so benannten
"Selektionsentscheidungen" (4) von
Bedeutung. Der Reifegrad ist ein entscheidender Faktor für einen guten Jahrgang. Der
Winzer muß die Zeichen der Natur lesen können, quasi ein Physiognomiker des Weinstocks
sein, um eine optimale Lesung zu erzielen, er greift zu, wenn der von Hans Blumenberg
geforderte "Aggregatzustand der Lesbarkeitt" (5) vorliegt. Erst dann wird aus der lesbaren Welt, d.h. aus dem Subsystem
Wingert im Makrosystem Welt-als-Agrikultur, eine gelesene und durch Transformation
in Blackboxes (vorzugsweise aus Eiche geküferte Barriques) erzielte genießbare Welt, die
goutiert und sogar spiritualisiert werden kann(6).
Schon bei Lichtenberg heißt es dazu:
Die Frage aber ist, ob alles für und lesbar ist.
Gewiß aber läßt sich durch vieles Probieren, und Nachsinnen auch eine Bedeutung in
etwas bringen was nicht für uns oder gar nicht lesbar ist. So sieht man im Sand Gesichter
[man beachte die Nähe der Metapher zu Foucault!, O.S.], Landschaften usw. die sicherlich
nicht die Absicht dieser Lagen [sic!] sind. (7)
Das Geistige gelangt also erst – und zwar in
einem speziellen Behälter – durch Gären des LeseStoffes in das LeseGut hinein: Vom
Desiderat zum Destillat geschieht der Veredelungsprozeß im Kopf des rezpierenden Subjekts
wie in den Edelstahlkolben der Bodenseebrennereien. Und dabei ist es unerheblich, ob
dieses Subjekt ein eher romantisches oder – vor der Lektüre! – eher nüchternes
ist: Die Trunkenheit stellt sich unweigerlich ein. Durch das Rauschen der gelesenen
Zeichen, das aus einem gelesenen Stück Welt glatt den Weltgeist hervorzubringen vermag:
Wenn der Aufklärer träumt, leistet er sich eine
lesbare Wirklichkeit, einen beinahe redseligen Weltgeist – doch nur, um den Träumer
in die Sackgasse seiner heimlichsten Wünsche geraten zu lassen. (8)
Dabei kann guter Weingeist hilfreich sein, um das
Rauschen wie den Rausch zu verstärken. Es muß kein Aufklärer, womöglich der
protestantischen Ethik verpflichtet und insofern gefestigt, aber gerade dadurch
bevorzugtes Objekt entgrenzender Versuchungen, sein wie in Blumenbergs Tagtraum. Das
Beispiel des Anselmus aus E.T.A. Hoffmanns goldenem Topf mag dies genausogut
zeigen:
Der gute alte Rheinwein schmeckte dem Anselmus gar
sehr und machte ihn gesprächiger, als er wohl sonst zu sein pflegte. [...] Und so wie er
voll innern Entzückens die Töne vernahm, wurden ihm immer verständlicher die
unbekannten Zeichen. (9)
Er mag zwar 'unbewußt' richtig geschrieben
haben, aber auf der schiefen Leseebene rutscht Anselmus in ein geradezu deMansches misreading.
Und schon allein deshalb kann dieses Beispiel die Eingangsfrage ["Wie (zum Teufel !)
soll das alles gelesen werden?"] nicht beantworten – allzusehr war
Anselmus' Leseversuch ein Fehlversuch, weil er nur die Frage "Kann ich das alles
lesen?" beantworten wollte. Keinesfalls steigt der intellektuelle Reifegrad,
also die Bedingung der Möglichkeit von Verständnis, proportional an mit der Menge des
Gelesenen und Genossenen. Es gibt LeserInnen, die bei einer Überdosis mit spontaner
Entäußerung oder auch mit einem plötzlichen tiefen und traumlosen Schlaf reagieren.
Beides sind Reflexe, das Rauschen der Signifikanten zu reduzieren. Die Realität ist
bekanntlich nüchterner als der reißerische, dionysisch-orgiastische Bacchanalien
konnotierende Buchtitel "Der Akt des Lesens" nahelegt. Bedingung für den
"Erfassungsakt" (10) ist immer
das Lese[r]bewußtsein und keinesfalls ein besinnungsloser Leser. Naturgemäß gewinnt
dieses Bewußtsein bei Iser die Priorität gegenüber dem Text:
Transfer [...] in das Bewußtsein des Lesers
wird häufig so verstanden, als ob er ausschließlich vom Text besorgt würde. Gewiß
initiiert der Text seinen Transfer; doch dieser vermag nur zu gelingen, insofern durch ihn
Dispositionen des Bewußtseins – solche des Erfassens wie solche des Verarbeitens
– in Anspruch genommen werden. (11)
Der – (wie Blumenberg betont) aufgeklärte,
also eher apollinische - Leser muß die lesbare Welt scheiden können in ihre lesbaren und
ihre unlesbaren Bestandteile:
Was ein aufgeklärter und aufklärender Kopf an
der Wirklichkeit noch – wenn überhaupt etwas – für lesbar hält, wird
akzentuiert durch das, was er ausdrücklich für unlesbar erklärt hat. (12)
Die bittere Erkenntnis, daß es überhaupt
Unlesbares und Unverdauliches, eine deMansche unreadability gibt, ist neueren
Datums und bedurfte historisch der Überwindung einer von Alleslesern wie Lavater
geprägten Epoche, die zumindest tendenziell totalitär im Sinne von alles inkorporierend
war. Die unlesbaren, also ungenießbaren Bestandteile, die aber bei einem
hochindustrialisierten maschinellen Leseprozess nicht nur in deutschen Weinbergen immer
mitgelesen werden, müssen nachher mühsam wieder herausgefiltert werden – damit das
Rauschen im Kopf nicht überhand nimmt und der Rausch nicht vergällt wird.
(13) Je mehr der Leser be-rauscht wird, desto schwieriger werden die
einfachsten Entzifferungsversuche. Der ganz basale und banale Akt des Lesens als das
fortgesetzte Dechiffrieren der Welt verunmöglicht sich so zusehends. Dabei hatte schon
Baltasar Gracián gefordert, zur Weisheit der Welt müsse und könne durch eine
internalisierte fortgesetzte Entzifferungsarbeit gelangt werden. Daß das nicht so einfach
ist, behauptet der Dialogpartner des Descifrador:
La dificultad la hallo yo en leer y entender lo
que está de las tejas abajo, porque como todo ande en cifra y los humanos corazones
estén tan sellados e inescrutables, asegúroos que el mejor letor se pierde. Y otra cosa,
que si no lleváis bien estudiada y bien sabida la contracifra de todo, os habréis de
hallar perdidos, sin acertar a leer palabra ni conocer letra, ni un rasgo ni un tilde. (14)
Eine Kritik, die der Graciánsche Descifrador
kategorisch abbügelt – Die Welt ist ohne Widerworte diskurrierend zu dechiffrieren:
Aquí sí – respondió el Descifrador –
que hay que discurrir y bien que descifrar. (15)
Was Gracián noch nicht glauben mochte, ist die
Alltagsweisheit, daß durch fortgesetztes Lesen und sich steigerndes Rauschen aus dem
möglicherweise fähigen Leser zwangsläufig ein des Lesens Unfähiger wird. Der
angenommene hermeneutische Zirkel ist ein circulus vitiosus. Aufklärerische Optimisten
konnten noch von Fortschritt durch Fortschreiten aus-gehen. Bis heute gibt es diese dem
idealistischen Mythos der Nachaufklärung verpflichtete Annahme, die Lesemenge sei –
mit Gewinn – unendlich steigerbar: Lesen ist gut, mehr lesen ist besser; Relektüre
als unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen hermeneutischer Zirkel. Als gäbe es
jenes Rauschen nicht, das wie beim zwanzigsten Überspielen einer (wohlgemerkt
nichtdigitalen, also wie menschliche Speichermedien veralteten) Audiocassette erst den
Genuß und dann auch das Verständnis verunmöglicht. Dieses ist nicht zu verwechseln mit
dem Rauschen und Knacksen in den Übermittlungsinstanzen zwischen Sendern und Empfängern
telekommunikativer Wahrheiten. Bis zur Digitalisierung der Netze war – so will Verf.
bis zum Beweis des Gegenteils glauben – diese Form von misreading ein rein
technisches prähermeneutisches Phänomen und Problem. Umberto Eco(16)
hat immer darauf bestanden, deutlich zwischen den beiden beim Lesen erworbenen Stimuli zu
unterscheiden. Anders als der Kollektor im Weinberg gereicht dem Lektor in Fabula
der freie (also doch wohl ungezügelte !) Gebrauch des Gelesenen nur zu einem solchen
bilderzeugenden Verfahren, das nicht Rausch zum Ziel hat:
Dobbiamo così distinguere l' uso
libero di un testo assunto quale stimolo immaginativo dalla interpretazione di un
testo aperto. (17)
Im Gegenteil: Ungebrochen ist hier noch der Drang
nach Deutung des offenen Kunstwerks: Es sollten noch elf Jahre vergehen, in
denen der aufrechte Zeichenleser und Zeichendeuter Eco versucht wurde, bis er in den Grenzen
der Interpretation beinahe abglitt wie ein posthermeneutischer Signifikant. Hans Blumenberg hat Verständnis für diese
optimistischen Phantasten, wobei die gleichsetzende Anfangsaufzählung zu beachten ist:
Der Heilige, der Leser, sind Figuren der
Versuchbarkeit, die der Autor als seine Herausforderung umkreist, immer weitere
Dimensionen geschichtlich gewesener Phantasie in Mythen, Kulten, verrufenen Liturgien,
magischen Praktiken zu öffnen. Was aus dem Buch aufsteigt, lenkt von dem Buch weg,
entmachtet seine Ausschließlichkeit in einem Horizont von mythischen Konkurrenzen,
diabolischen Parodien, sakralen Simulationen – der ganze religionsgeschichtlich
unterbaute Aufwand, der einer Geschichte der menschlichen Imagination dienstbar sein könnte. (18)
Hier steigt zwar auch etwas aus dem Buch auf wie
Weltgeist, aber es demystifiziert trotzdem das Werk und einen Werkbegriff, der von
Autorintentionen vor dem Simulakrum ausging. Und weiter heißt es:
Aber Thema sind nicht diese Inhalte, sondern ist das Zentrum der
Reizbarkeit, auf das sie sich beziehen. (19)
Wo die in Heidelberg knapp an der Pfälzer
Weinstraße gezogenen Gadamerschen Zirkelkreise allmählich verschwinden wie die
Labyrinthe in bayerischen Maisfeldern nach der Mahd im Herbst geht die Saat auf, deren germes
bei der Dissémination termes waren: Lesbare und zu lesende Wörter; Wörter, die
gelesen wurden; Und wiedergelesen; Und wiedergelesen. Aber auch nach sorgfältigstem
Filtern stellte sich Genuß nicht ein. Dekonstruktion ist und bleibt destruktiv – und
desillusionierend. Und auch der erste Rausch verflog schon bald. In nahezu evangelischer
Attitüde ist nicht von Trance die Rede (oder besser: die Schrift), sondern von trace,
vom ortlosen und nicht auflesbaren Engraphen:
La trace n' étant pas une présence mais le
simulacre d' une présence qui se disloque, se déplace, se renvoie, n' a
proprement pas lieu, l' effacement appartient à sa structure.
(20)
Und in dieser mystischen Theologie sind weder Leser noch Lesegut
von Bedeutung, nur der Sämann Autor, dessen Gottebenbildlichkeit auch vom Zeichenleser
gelesen wird, der die Wahrheit nicht nur in der Malerei suchte:
Au regard de l' oeuvre, l' écrivain est
à la fois tout et rien. Comme Dieu. (21)
Währenddessen geht Umberto Eco noch immer im
Wald der Fiktionen spazieren. Vielleicht ist es ein deutscher Eichenwald, der einmal
zu Barriques gemacht werden wird, in denen frische Franzosen zu großen Cuvées ausgebaut
werden. Wobei eine solche Veredelung einem wirklichen Premier Cru auch schaden kann –
und: Die nötige Substanz muß er allemal haben. Es gibt – und das nicht nur in
Frankreich, sondern auch in Kalifornien - große Gewächse aus sehr guten Jahrgängen, die
eine so komplexe Note haben, daß sie auch von Kennern nur als unbeschreiblich
(inscriptible und illisible) bezeichnet und als nicht bis zur Neige lesbar gelesen werden.
Es sind keine schlichten Konsumenten, sondern Gottsucher, die sich auf den Weg zur Quelle
machen, die sie nie erreichen werden. Denn – und das gilt für alle Beziehungen von
Illisiblem und illegitimer Wahrheitssuche:
S' entendre est l' expérience la plus
normale et la plus impossible. On pourrait en conclure d' abord que la source est
toujours autre et que ce qui s' entend, ne s' entendant pas soi-meme, vient
toujours d' ailleurs, de dehors et de loin. Le leurre du moi, de la conscience comme
s' entendre-parler consisterait à rever une opération de maitrise idéale,
idéalisante, transformant l' hétéro-affection en auto-affection, l'
hétéronomie en autonomie. (22)
Die Frage "Wie (in drei Gottes Namen !) soll
das alles gelesen werden?" muß also für all jene unbeantwortet bleiben, die hoffen,
im Lesen oder im Schreiben – über den Umweg des hermeneutischen Karussells –
zur Wahrheit zu gelangen. Man mag sich mit der Unlesbarkeit der Welt nicht abfinden
wollen, aber die Kenntnis um sie kann vor Enttäuschungen bewahren, wie sie ein in allzu
großer Erwartung hastig bis zum trüben Bodensatz geleerter junger Welschriesling
bereitet. Restsüße ist bei Texten wie bei Weinen kein Zeichen von Qualität.
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