Zeitschrift für Literatur und Philosophie
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Video Video – (BilderTexte gleichzeitig lesen)
Holger Kube Ventura
Es gibt a priori keine Kausalitäten, Regeln oder Muster im audiovisuellen Ereignis. An sich ist es strukturell erst einmal unorganisiert und damit bedeutungslos. Erst, wenn es durch die Systematiken des Betrachters gefiltert wird, entsteht überhaupt eine Form wie Film oder Video, die bestimmten Konventionen, Ansprüchen und Wertvorstellungen unterliegt und von welcher Bedeutungshaftigkeit eingefordert wird.
1. Die Leserdispositionen
Gewisse Videos sind anders als andere. Gewisse Videos führen stärker als "konventionelle" Videos zu bestimmten, widerspenstigen und erstaunlichen Effekten in der Rezeption und Interpretation. Möglichkeitsbedingung solcher Effekte - wie auch ihres Ausbleibens - sind die jeweiligen Leserdispositionen: Es ist davon auszugehen, daß der Betrachter einer ganzen Bandbreite von Systemen und Diskursen unterliegt, wenn er in Konfrontation mit dem audiovisuellen Ereignis dieses zum Video mitsamt dem ganzen Spektrum von Kategorisierungsmöglichkeiten (und -zwängen) konstruiert und "zusammenliest", besonders aber, wenn er beginnt, diese Konstruktion zu reflektieren und darüber zu sprechen. Im Reden über das Gesehene wird die Systematik der Erschließungsstrategien und -funktionen evident: Von Anfang an steckte der Betrachter in bestimmten Erwartungshaltungen gegenüber dem Inhalt des Videos, in Prognosen über z.B. den Verlauf der Narration, in Forderungen an z.B. die formale Stringenz, in Wünschen z.B. bezüglich bestimmter thematischer Ausrichtungen u.s.w. Die reflektierte Erschließung ist zum größten Teil - wenn nicht gar vollständig - ein Dispositiv erkenntnistheoretischer Funktionen, das sich aus einem ganzen Netzwerk scheinbar rational beschreibbarer Systeme konstituiert.
Welches sind also Zuschauerdispositionen, die im Zuge seiner Interpretation und Versprachlichung des Videos zum Videotext hin diese Schöpfung (diesen kreativen Akt) gefiltert, geleitet und wesentlich bestimmt haben und noch bis zur letzten Bemerkung weiterbestimmen?
a // zur Herkunft des Videos.
Das Video soll zumindest insofern einen Bezug zur Realität haben (zu dem, was außerhalb der gebeamten Projektion oder des Monitors liegt), als daß es einen Autor hat. Der im Video rezipierte, gestaltete Entwurf (welcher Art er auch immer sei) wird erst dadurch legitimerweise zu einem solchen - und fordert erst dann zu einer Auseinandersetzung mit ihm auf -, wenn es einen Autor gibt, der dafür gewissermaßen verantwortlich zeichnet. Dieser 'Autor´ ist hierbei im Sinne einer Instanz zu verstehen, die dem Video einen Standpunkt gibt, einen Anhalte-Punkt im sonst arbiträren oder natürlichen Fluß der Bilder. Um überhaupt erst auf Bedeutungssuche zu gehen oder sich an irgendeiner Art von Inhalt zu "messen", muß der Betrachter eine solche Instanz und eine von dieser intendierte (ggf. auch bloß formale) "message" voraussetzen und daran seinen Erschließungsprozeß orientieren. Dementsprechend "sieht man" z.B. die ungestalteten Bilder einer autorlosen Überwachungskamera natürlich nicht als Videotape, sondern interessiert sich bestenfalls für deren artifizielle Perspektive auf die Realität. Die Frage nach Bedeutung und Standpunkt stellt sich dabei nicht und die Systematik (Automatik) ihrer Beantwortung kann insofern auch nicht evident werden und sich selbst bestätigen.
Abgesehen von der bloßen Notwendigkeit einer autoriellen Instanz wird von dieser darüber hinaus eine gewisse Integrität erwartet: Der Betrachter ist tendenziell eher auf homogene und damit eindeutig identifizierbare Standpunkte fixiert, als auf zwiespältige oder unentschlossene. So wird z.B. der Advocatus Diaboli zwar als antithetisches Mittel, nicht aber als substantieller Teil eines Standpunktes akzeptiert: Dem Plädoyer des wirklich Teuflischen ist nicht nur nicht zu trauen, sondern es ist zu verdammen. Die Unentschiedenheit des Autors - die von ihm verweigerte Ratifizierung - ist inakzeptabel, es sei denn, sie wird zu einem programmatischen Element.
Natürlich wird dem Video wie dem Film eine gewisse prosaische oder lyrische Offenheit (die künstlerische Freiheit) zugestanden, schließlich wird aber eine darunter liegende autorielle Essenz, ein reiner, auf den Schöpfer des Werkes bezogener Kern angenommen. Ist ein solcher nicht sichtbar, so muß er konstruiert werden. Was sonst sollte letztlich den Bezugspunkt für die Analyse liefern, was sonst sollte man letztlich beurteilen wollen? Mit dem Verlust des Autors und damit des Standpunktes des Anderen degeneriert das Video zum blanken Phänomen, und es wechselt der Zweikampf mit dem Statement zum zurückgelehnten (distanzierten) Austausch von Lesarten. Die Autorinstanz ist das maßgebliche parergon für das ergon. Wenn dem Werk trotz der Gewißheit einer Autorenschaft eine bestimmte Entschiedenheit bezüglich des Standpunktes des Autors mangelt, dann bieten sich als Notbremsen zur Dingfestmachung des herumgeisternden Autors unweigerlich Klassifikationen wie "experimentelles", "künstlerisches", oder - ganz einfach - "schlechtes" Video an.
Andere Zuschauerdispositionen bezüglich der Herkunft des Videos finden sich in den Begrenzungen desselben: Das Video muß einen lokalisierbaren Anfang und ein Ende haben, also wiederum einen (diesmal zeitlichen) Rahmen, der es vom Nicht-Video abgrenzt. Durch sein zeitliches Begrenztsein wird es einerseits erst zum kinematographischen Ereignis und ist von den Endlosschleifen der Videoinstallation oder -situation isolierbar (eine Videosituation wäre z.B. auch das den Abend dekorierende Fernsehen oder das Starren auf das dekorhafte Clip-Programm in einer Bar). Andererseits ist es erst dadurch guten Gewissens greifbar, erklärbar und beurteilbar. Das dem vereinnahmenden Charakter des Gesprächs über das Video widerstrebende Fragment - der Ausschnitt - stellt eine ungeheure Bedrohung für die gesamte Kommunikation über das Video dar. Die Angst vor dem unbekannten, nicht verfügbaren und daher unkontrollierbaren Rest spiegelt sich am deutlichsten in der akribischen Fleißarbeit filmwissenschaftlicher Shot-Sezierungen, aber auch in dem oft so unbeholfen wirkenden Unternehmen, mithilfe dreingegebener Videoprints in Festivalkatalogen die interpretatorischen und verortenden Versuche anschaulich zu machen.
Die Ausschnitte und Fragmente des kinematographischen Ereignisses müssen sich somit in doppelter Hinsicht zu einem Ganzen fügen. Die erste Fügung geschieht durch die Lokalisierung der autoriellen Instanz und einer dadurch erforderlichen Stellungnahme zu dem (abgeschlossen) gesehenen Unternehmen, die zweite geschieht durch den ein Ende signalisierenden und damit das Video als Objekt klassifizierbar machenden Abspann. Der Betrachter ist darauf disponiert, das Video in eine isolierbare und handhabbare Größe zu transformieren. Dies impliziert gleichzeitig seine angenommene Beherrschbarkeit, also die Möglichkeitsbedingung einer Rede über das Video, gewissermaßen aus der Vogel- oder Gottesperspektive.
b // zur Form des Videos.
Ganz gleich um welche Form es sich handelt, es ist immer eine solche findbar und benennbar, und - schärfer formuliert - es wird immer eine gefunden werden. Sobald die Rede über das Video beginnt, findet sich eine Form ein, die im Umkehrschluß verpflichtender Maßstab für sowohl die Erschließung als auch die Rede über das Video wird.
Begründet durch das Reden selber, das - zumindest in unserer Kultur - stets mit Stringenz, Geschlossenheit, Homogenität und binären Entscheidungen eher überzeugen kann als mit fragmentarischer, ambivalenter Heterogenität, wird auch in der Form des Videos eine solche Stringenz erwartet und in den Text des Videos hineingelesen: Das Sprechende infiziert sowohl retro- wie perspektiv das Sehende. Da anzunehmen ist, daß es einen Autor gibt, der etwas sagen und dabei überzeugend sein will (denn überzeugend zu sein ist ein generelles Qualitätskriterium), wird er wohl formal stringent argumentiert haben. Die erwartete Stringenz schließt dabei heutzutage eine gewisse Gebrochenheit der Form keineswegs mehr aus. Sprachkodexe z.B. werden zunehmend durchlässiger für multiple Stilbrüche und ein mehr oder weniger unbeschwertes Surfen auf den formalsprachlichen Verbindlichkeiten. Trotz dieser pluralistischen Trends existieren aber weiterhin spezifische, unterschiedliche Richtlinien für das Sprechen (die Form des Argumentierens), von denen eine Stringenzvorstellung abgeleitet wird. Sei er nun geschmäcklerisch-temporärer, situativer oder traditionell-überdauernder Art, der Maßstab für formale Stringenz als Disposition wird das Video richten. Unstimmigkeiten (wie z.B. die unerwartet verlaufende Dramaturgie einer Narration, die gleich am Anfang mehrere Klimaxe verballert) werden vom Betrachter bemerkt und entweder mit Bedeutung aufgeladen und dadurch stimmig in das Video reintegriert, oder aber sie werden als Lapsus vermerkt und dadurch marginalisiert. Wenn der Betrachter dieses Urteil über die formale Unstimmigkeit nicht schnell genug fällen kann und sich unsicher darüber ist (u.U. aus Achtung vor dem noch Unbekannten), dann ist er in einer Situation, in der er sich auf der falschen Fährte fühlt. Er muß nach einer anderen Strategie suchen, um das Video zu bereinigen. Hilft auch das nicht, dann werden wieder die schon erwähnten Notbremsen gezogen.
Die Forderung nach formaler Stringenz manifestiert sich nicht nur bei der konkreten Form des Videos (z.B. seiner Dauer, seinem Rhythmus, u.s.w.), sondern auch bei extrinsischen Bezügen (wie z.B. seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Genre), wobei auch hier wieder - von individuell unterschiedlichen Maßstäben ausgehend - unterschiedliche Stringenzforderungen gestellt werden. Für den einen Betrachter gehorcht so z.B. das Dokumentarvideo über "Die Nachkriegsgeschichte Deutschlands" nur dann seiner Vorstellung von einem Reinheitsgebot der Genres und wird nur dann von ihm akzeptiert und als Anlaß für ernste Auseinandersetzung genommen, wenn er es als sachlich, nüchtern und gewissenhaft und nicht als von explizitem Zynismus und Witz durchsetzt rezipiert. Einen anderen Betrachter würde Zynismus oder Sarkasmus hierbei vielleicht gar nicht stören, da seine Erwartungshaltung bezüglich des betreffenden Genres solche Formen nicht ausschließt und daher bestätigt/befriedigt wird. Dagegen ist bei beiden Betrachtern anzunehmen, daß ihr Kohärenzempfinden einen gehörigen Schlag erfahren würde, wenn das Dokumentarvideo über die Nachkriegsgeschichte Deutschlands sich unverhofft z.B. zum blanken Slapstick oder zur Pornographie hin entwickeln würde. Die gleiche Disposition zu Geschlossenheit und Reinheit ist es, die z.B. der abstrakten, formal-experimentellen Computeranimation einen Exkurs ins Realistische gleichsam verbietet.
Die Disposition zu formaler Stringenz läßt den Betrachter versuchen, die unreine Form in seiner Stellungnahme zu bereinigen, indem er sie z.B. als semantisch begründet integriert oder aber als Marginalie radikal vom Wesentlichen des Videos ausschließt. Ein sich dieser Opposition entziehendes Differential (ein Sowohl-als-Auch oder ein Weder-Noch) würde das Reden ins Stocken bringen und dem Ding etwas Unheimliches verleihen. Mit der Auszeichnung der formalen Stringenz zum Qualitätskriterium geht die fundamentale Disposition der Diskriminierung zwischen Form und Inhalt einher. Wenn das Mittel nicht mehr von seinem Zweck, der Grund nicht mehr von seiner Wirkung und das Zentrum nicht mehr von seinem Rand unterschieden werden könnten, dann würde das Video zum radikal Anderem werden. Es wäre mit keiner oppositionell organisierten Sprache mehr greifbar, ohne recht unlogisch und widersprüchlich dabei zu werden. Es wäre daher unbeherrschbar und würde als Option zum logischen Absturz der Bedeutungssuche nur die Flucht auf so rettende Inseln wie Desinteresse, negative Wertung, Inkompetenzerklärung, Kunstverweis etc. anbieten. Form und Inhalt sollen kooperieren, eine umfassende Verquickung von beiden ist subversiv oder arbiträr. So ist auch das künstlerische Video, das um einen bestimmten Inhalt wankt, einer zwar individuell verschiedenen, aber doch schwergewichtigen Disposition des Betrachters zu einer quasi autonomen Ethik der Form und einer Ethik des Inhalts verpflichtet.
c // zur Argumentation des Videos.
Wenn gesprochen oder geschrieben wird, dann wird auch bedeutet.
Eine Bedeutung ist gleichfalls anzunehmen, wenn gefilmt wurde, denn Film und Video (die kinematographische Schrift oder Sprache) "wollen uns ja was sagen". Auch wenn der kinematographischen Argumentation lockerere Grenzen gesetzt zu sein scheinen als der üblichen, gesprochenen Argumentation (bezüglich z.B. der Metaphorik, der Geradlinigkeit, der Synthese etc.), so gilt doch auch hier ein gewisser Ehrenkodex, der sich eben aus den konventionalisierten Erwartungshaltungen des Betrachters ergibt:
- Es darf nicht heimtückisch in die Irre geführt oder sogar gelogen werden.
- Referenzen und Zitate sollen gewissenhaft eingeflochten und nicht mißbraucht werden.
- Verweise und Exkurse dienen zur Verdeutlichung des zentralen Inhalts.
- Die einzelnen Argumente richten sich nach dem Gesamtunternehmen des Autors und sind auch in allein diesem begründet.
- Benutzte Ausdrücke haben sich an der konventionalisierten, allgemein gebräuchlichen Bedeutung zu orientieren, bevor sie ggf. entfremdet werden.
- Die Argumentation muß sowohl in ihrer gesamten Strategie, als auch in ihren Einzelelementen das Für und Wider, das Intrinsische und das Extrinsische ihres Gegenstandes vorstellen, abwägen und schließlich zu einer Synthese (zu einem Ende) führen.
- Uneinheitlicher Stil und Kraftausdrücke sind der Stärke der Argumentation eigentlich nicht zuträglich (u.U. aber akzeptabel).
Abgesehen von diesen Facetten der Betrachterdisposition, die wie Faustregeln funktionieren und ganz bewußt in Sprache und Inhalt der Après-Video-Debatte eingeflochten werden, trägt der Betrachter noch einen inneren Maßstab mit ins Videofestival (oder Kino), der ihn diese oder jene kinematographische Argumentationsstruktur als "überzogen", "dünn" oder "gerade richtig" rezipieren läßt und wesentlich sein abschließendes Werturteil beeinflußt. Mag dieser Maßstab (die Erwartung des angemessenen Maßes) auch individuell variieren, so wird sich tendenziell doch eine oben beschriebene Disposition durchsetzen. Dies geschieht spätestens im klassifizierenden, intellektuellen Diskurs über das Gesehene, wenn vom Unterhaltungs-, Entspannungs-, Ablenkungs- oder Impulswert des Videos abgesehen und eine reflektierte, dialogische Auseinandersetzung und Stellungnahme durchgeführt wird. Daß allein eine in dieser Form versprachlichte Auseinandersetzung und konzentrierte Reflexion über das Gesehene Anspruch, Sinn und Wert des exponierten Videos ausmachen würde, ist dabei übrigens eine rein akademische Disposition.
d // zur Aussage des Videos.
Der nun von einem Autor in einem bestimmten Zeitraum, in einer schlüssigen Form und mit angemessenen Strategien dargebotene Entwurf muß eine Aussage haben - es ist nicht anders vorstellbar. Erstens, weil sich die Entscheidung des Autors (also das bereits gesehene Video) sonst außerhalb der tagtäglich neu erfahrenen, zielstrebigen, kausalorientierten und sinnfixierten Entscheidungsraster des Betrachters befände und somit der Autor mit seinem Video zu einem alien würde, mit dem sich die Ratio schlecht anfreunden könnte. Zweitens, weil sonst alle bisher schon gesehenen kinematographischen Ereignisse in Zweifel gezogen werden müßten.
Das bewußte, reflektierte Reden über Videotexte (und das ist es, was hier getan wird, alles andere ist privat) kann nicht anders, als sich auf ein dem Video unterstelltes Ziel und auf einen Ursprung (Aussage und Intention) zu beziehen, da es selber von Anfang an bedeutend organisiert ist. Die Aussage als solche ist in der Aussage nicht negierbar, nur reflektierbar, klassifizierbar und beherrschbar. Selbst wenn dem Video subjektiv prosaisch oder sogar poetisch geantwortet werden würde, dann hätte sich diese Antwort allein aufgrund der im Video erwarteten und dann in irgendeiner Form gefundenen Aussage konstituiert, denn die Antwort (etymolog. 'Gegenrede´) ist per definitionem an die vorangegangene Aussage gekettet. Ohne Aussage würde das Video in dem Nirwana verschwinden, aus dem es gekommen ist und das wäre selbst dem abschätzigsten Werturteil als sinnstiftender Ertrag des konzentrierten Sehens zu wenig. Die Erfahrung, daß konzentriertes Sehen (das "um ein herbeigewartetes Zentrum kreisende Sehen") zu keinem wie auch immer geartetem Urteil über einen Punkt (Aussage- oder Anhaltspunkt) kommt, ist nicht denkbar.
Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die Rezeption eines künstlerischen Videos von vielen komplexen Erwartungen determiniert ist, deren verbindende Basis ein bestimmtes Konzept von zentralistischer Logik, von Linearität, Kohärenz und oppositionell organisierter Hierarchie ist. Die kinematographische Projektion fällt quasi in eine Struktur hinein, die schon wirkt, bevor überhaupt das erste Bild versandt wurde.
Im folgenden werden nun - in verallgemeinerter Form - zwei Sorten von Videos gegenübergestellt und als theoretische Extrempole der Gesamtheit aller Videotapes behauptet. Für die hier anvisierte Konstruktion oder Erzählung eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen 'dekonstruktivistisch´ und 'konventionell´ spielt dabei die Heterogenität einer Bandbreite, die vom MTV-Clip bis zum Dokumentarvideo reicht, eigentlich keine Rolle. Des weiteren ist die vorgeschlagene Unterscheidung nur sehr bedingt videospezifisch, sie könnte ebenso für andere audiovisuelle Erzeugnisse (wie z.B. den Film) gelten.
II. Das konventionelle Video
Man könnte das "konventionelle Video" als ein Video beschreiben, daß die geschilderten Dispositionen des Betrachters mehr oder weniger axiomatisch anerkennt und versucht, ihnen gerecht zu werden. Es spiegelt die Erwartungsstruktur des Betrachters zum größten Teil wider und versucht, eine Aussage zu machen, ein Bild anzubieten, das bezüglich Form, Inhalt und Strategie mit der Erwartung des Betrachters kooperiert. In solch einem Fall befinden sich Video und Betrachter in einträchtiger Nachbarschaft, in gemeinnütziger Kooperation. Mal redet das Video, mal redet der Betrachter, meistens geht es in diesem Gespräch in erster Linie um ein Drittes, nämlich die Aussage, die Sachlage, den Inhalt, die Substanz des Gezeigten/Gesehenen. So, wie das Video auf diese Substanz konzentriert ist, indem es versucht, sie zu beschreiben, so ist der Betrachter auf sie konzentriert, indem er versucht, sie zu besprechen.
Das konventionelle Video basiert auf der Überzeugung, daß seine Struktur weitestgehend ein Echo der Struktur der Betrachterdispositionen sein muß, damit ein Inhalt transportiert werden kann und dieser auch verstanden wird. Es funktioniert primär als ökonomisches, zielgerichtetes, quasi selbstloses Vehikel für einen (wichtigeren) Inhalt, Zweck oder Fahrgast (z.B. den Autor). Verschiedene Vehikel sind dabei vorstellbar und der Betrachter weiß natürlich, daß die Fahrt auf dem Moped eine andere ist, als die in der Planierraupe und stellt sich darauf ein (tuning). Der Betrachter muß in das Video-Vehikel einsteigen, einigermaßen bequem drin sitzen und eine gute Sicht auf die durchreiste Umgebung haben können (video: lat., 'Ich sehe´). Wie diese Umgebung dann ist und wie sie wirkt, ist prinzipiell sekundär, solange der Nachregelungsbereich des tuning (das Sich-Zurechtrücken) nicht überschritten wird.
Das konventionelle Video bestätigt tendenziell den Großteil der Betrachtererwartungen, indem es eine hinreichend integre autorielle Instanz bietet; indem seine Überzeugungs- oder Darstellungsstrategie halbwegs kohärent und logisch linear ist; indem es einen auslotbaren Kern (eine Essenz) bereitstellt, indem es seine eigenen Grenzen definiert; indem es als Entwurf verdaulich und handhabbar ist (was einen unhandlichen, schlecht verdaulichen Inhalt nicht ausschließt); indem es stringent erscheint; indem es nicht zu weit aus einem gewissen, konventionalisierten Sprachkodex herausfällt, und indem es auf eine extrahierbare message hinausläuft. (Allerdings lassen sich solche Eigenschaften natürlich nicht substantiell denken - was könnte man allen Ernstes schon über das Sein eines Videos sagen. Sie benennen eher die Art und Weise, wie ein Video wohl von einem Großteil der Betrachter gesehen wird, bzw. welche Herangehensweisen dem Autor unterstellt werden könnten).
III. Das dekonstruktivistische Video
Das "dekonstruktivistische Video" attackiert subversiv die Erwartungshaltung des Betrachters. Es erschüttert nachhaltig seine Disposition auf Homogenität, Kohärenz, Linearität und Stringenz, indem es gezielt die damit verbundenen konkreten Vorstellungen über Form, Inhalt und besonders den Verlauf des Videos "enttäuscht" und selbst thematisiert. Mittels formaler und inhaltlicher Markierungen werden beim Betrachter systematische Prognosen über Verlauf, Bedeutung und Zusammenhang der präsentierten Elemente aktiviert, kurz darauf aber enttäuscht, verlagert, oder aber weit überstiegen. Durch einen überraschenden, zuweilen abrupten Ebenenwechsel oder das unbemerkte Sich-Einschleichen eines anderen Registers wird dem Betrachter jeweils der Ort entzogen, von dem aus er antritt, das Video zu sehen.
Das konventionelle Video öffnet sich aktiv den Dispositionen des Betrachters (es "holt ihn ab"), geleitet ihn zu seinem Inhalt hin, lotet diesen aus, trifft eine Aussage und schließt sich wieder (es wird zu einem stringenten Kreis). Es ist von Anfang an nur demjenigen Betrachter verschlossen, der aus mangelndem Interesse, Kompetenz o.ä. gar nicht erst einsteigt, bzw. es wird am Ende verschlossen, indem es eine Identifizierung und eine scheinbar hinreichende Rede über das Video mehr oder weniger gestattet. Dem dekonstruktivistischen Video dagegen scheint jedes Schloß und jeder Schluß zu fehlen, es läßt sich weder auf- noch zuschließen, obwohl es permanent Türen anbietet: Es führt von einer Drehtür in die andere. Von Anfang an bietet es oft, zwar temporäre, aber eindeutige Einstiegsmöglichkeiten in den Identifizierungs-, Klassifizierungs- und Hierarchisierungsprozess an und nötigt oder verführt den Betrachter dadurch zu dem Versuch, seine Dispositionen zu verifizieren.
So werden im dekonstruktivistischen Video z.B. narrative Stränge durch scratching formalisiert (wie beim Kratzer in der Schallplatte) oder durch untypische dramaturgische Chronologie aus dem Gleichgewicht gebracht. Zuvor nur als Marginalien wahrgenommene Elemente rücken temporär ins Zentrum der Bedeutung und bewirken ein massives displacement der vorher offerierten Kohärenz. Die Ton/Bild-Schere folgt keinem gewohnten Rhythmus oder zerbricht zeitweise sogar völlig, wodurch sich formale und semantische Abgründe auftun und die Inhalte hypostasieren. Genres können ineinander fließen und die mit ihnen verbundenen Wiedererkennungscodes zum Oszillieren bringen. Der Einsatz von Makro- und Mikroebenen kann überraschend inadäquat erfolgen oder ein einzelner überdehnter Kameraschwenk einen begonnenen Zusammenhang solange aufschieben, bis dieser verblaßt und dadurch Platz für einen neuen schafft. Mehrere rote Fäden werden ausgelegt, einige davon extrem überspitzt, andere penetrant geradlinig; die Enden der Fäden bleiben oft aus. Sowohl formale wie inhaltliche Cluster, deren Gesetzmäßigkeiten, Verlauf und Bedeutung aufgrund konventionalisierter Erfahrung vorhersehbar erscheinen, werden gezielt verwendet und verrückt. Spiel und Ernst, Essenz und Beiwerk, Überfluß und Entzug, Teil und Ganzes, Faktizität und Fiktion, Wahrheit und Lüge, Mittel und Zweck, Rauschen und Botschaft ... - das ganze Oppositionswerk der Sprache und des bewußten Begreifens wird im dekonstruktivistischen Video mehr oder weniger stark in Zweifel gezogen und befragt.
Diese Befragung vollzieht sich dabei eben nicht nur als einfache Inversion der konventionellen Vektoren (indem z.B. mit dem normalerweise ernsthaft dargestellten Themenkomplex nun einfach spielerisch umgegangen würde), sondern in Form einer nur jeweils temporär und labil identifizierbaren Haltlosigkeit, die das Vektorielle, das Systemische selbst ins Bewußtsein dringen läßt. Das Systemische der Systematik (nach der Bedeutung erkannt, zugewiesen und eingesetzt wird), das Hierarchische der Hierarchie (nach der Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden) und das Diskursive des Diskurses (nach dem ein Inhalt ausgerichtet wird) kommt durch die Dekonstruktion zum Vorschein. Dadurch, daß der Betrachter seine Erwartungen, Prognosen und Wünsche an das Video erstens als unbestätigt (unbegründet) erfährt und zweitens durch nachfolgende exzessive Ebenensprünge oder radikalen (tautologischen) Entzug der Ebenen mit der Festigung neu aufgestellter Einschätzungen (Thesen) nicht nachkommt, bzw. ins Leere läuft, wird die Struktur der Bedeutungserschließung an sich sichtbar. Die Logik verwirrt, die ausbleibende Kategorisierung verunsichert: "Was ist das?"
Es entsteht ein Wechselbad-Effekt, ein Schwanken zwischen bestochener Faszination und kühler Distanz, vielleicht ein steckengebliebenes Lachen. Die Auswirkungen dieser Verunsicherung sind sowohl konstruktiv als auch destruktiv, was sich deutlich im nachträglichen Gespräch über das dekonstruktivistische Video niederschlägt. Die Möglichkeit, sich das Video durch die identifizierende, hierarchisierende Rede einzuverleiben (es mit resistenten Begriffen zu belegen, zu begreifen und damit verfügbar und besitzbar zu machen), wird zerstört oder zumindest stark eingeschränkt. Dadurch aber, daß während dem Zuschauen so viele Register durchsucht wurden, bzw. kaum ein einziger haltbarer Rahmen gefunden werden konnte, ist dem nachträglichen Gespräch gleichzeitig ein ungeheurer Redeanlaß gegeben, welcher als konstruktiver Gegenpol zu der verweigerten Rede über das Video gesehen werden kann. Wenn man auf der einen Seite die Sprache des konventionellen Videos und die Rezeption und Rede über dieses Video als 'grammatisch´ bezeichnen wollte, dann sollte man analog dazu die Sprache, Rezeption und Besprechung des dekonstruktivistischen Videos als 'anagrammatisch´ bezeichnen. Während das konventionelle Video tendenziell stets zwar ggf. disparate, immer aber recht klar begründbare Urteilsprozesse initiiert, scheint das dekonstruktivistische Video eher zu einem ambitioniert-hilflosen "I like it"/"I don´t like it" zu verleiten.
Um zu solchen Effekten zu kommen und dem Betrachter ein bloß eindimensionales, distanziertes Unverständnis (also den unbekümmerten Ausstieg) zu verweigern, muß das dekonstruktivistische Video dem Betrachter stets neue Haltegriffe anbieten, dem Drang nach Erkenntnis und Begriff schmeicheln und durch temporäre Eindeutigkeiten zu einer Wiederaufnahme der Suche nach Kohärenz und Kern entweder nötigen oder suggestiv/affektiv dazu verführen. Es hat dadurch genau diesen ambivalenten Charakter des simultan Integrativen und Subversiven, den die entschiedene Konvention nicht kennt, und der sie (im Gegensatz zu einer graduell beschreibbaren Wankelmütigkeit) in eine Befragung der eigenen Legitimation zwingt.
Trotz des bisher beschriebenen Hangs dekonstruktivistischer Videos zur Verweigerung von Identität, Kohärenz, Linearität und Zentralität sollte nicht der Eindruck entstehen, daß es sich bei solchen Videos um die Inthronisierung des allumfassenden Fragezeichens handelte. Als 'dekonstruktivistisch´ zu bezeichnende Videos können durchaus auch lokalisierbare Themen aufweisen oder sogar "dokumentarisch" sein. Darüber hinaus können auf einer Meta-Ebene unterschiedliche Strategien, Stile und Grade der dekonstruktivistischen Aufhebelung ausgemacht werden, die jeweils an spezifische kulturelle und auch historische Kontexte gebunden sind. Es käme darauf an, die Brisanz und Tragweite des dekonstruktivistischen Effektes im Gefüge des Gesamteindrucks abzuwägen und zu überprüfen. Da sich Kontexte, Konventionen und Strategien nicht nur im Laufe der Zeit ändern, sondern auch individuell variieren, sind dekonstruktive Deutungen und der Versuch ihrer Beschreibung grundsätzlich temporär und fragil.
Anmerkungen

(1) "Konventionell" ist hier und im folgenden wörtlich zu verstehen: Das konventionelle Video wendet sich tendenziell viel stärker an eine konventionalisierte, normativ beschreibbare und bereits gekannte Bedeutungssuche. Es stört nicht die Konventionen, auf die die konsensualisiert ausgesprochene Betrachtung geeicht ist. Hierbei bleibt jedoch völlig unbewiesen, ob es überhaupt so etwas wie einen tatsächlich beschreibbaren Konsens unter den Betrachtungsweisen gibt, "konventionell" bleibt demnach einigermaßen undefiniert und wendet sich an eine allgemeingebräuchliche Verwendung des Wortes.
(2)  Im Gegensatz zu Barthes These, daß die einzig denkbare, zentrierte Autorität eines Textes im Leser zu sehen ist ("Der Tod des Autors", 1964) geht es hier um ein Konzept, das Michel Foucault bereits 1969 als transdiskursive Autorfunktion beschrieben hat.
(3) Etwas zu Begründen, also "mit einem Grund zu versehen", hat stets eine vereinnahmende, harmonisierende, also begradigende Bewegung in sich.
(4) Unheimlich ist das, wo man sich nicht heimisch fühlt: das Unvertraute und Nicht-Verortbare, aber auch das Irrationale.