Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Kunst & Verbrechen
Kunst als Verbrechen vs. Verbrechen als Kunst
Igor Tchoubarov
Zum Verständnis des Moskauer Aktionismus in den 90er Jahren
Auf den ersten Anblick scheint es eine rein theoretische Aufgabe zu sein, den Unterschied zu markieren zwischen der Kunst als Verbrechen, d.h. einer Übertretung der gewohnten Wahrnehmungsgrenzen, der Gesamtheit der wechselseitigen Beziehungen der Dinge und der Menschen, und dem Verbrechen als einem Straftatbestand, dem der Künstler – mit dem Recht des von ihm entwickelten sozialen Projektes oder der Performance – den Rahmen eines Kunstwerkes gibt, d.h. dem Verbrechen als Kunst.
Denkt man weiter über dieses Thema nach, wird aber klar, daß man in diesem Fall unmöglich eine objektive und logische Position einnehmen kann, neutral und gleichgültig gegenüber dem zu erforschenden Gegenstand.
Eine solche Unterscheidung läßt sich nur treffen, wenn man zuvor die Begriffe "Kunst" und "Verbrechen" definiert. Dabei geraten wir sofort in Streit mit der sozialen Realität, mit den Institutionen der Macht u.ä., denn Gegenstand der Diskussion sind keineswegs abstrakte ästhetische Fragen, sondern einerseits reale künstlerische Praktiken und, andererseits, Verbrechens- und Strafpraktiken, komplizierte Beziehungen zwischen Künstlern und Vertretern der Macht, die unterschiedliche Vorstellungen vom Platz und von den Aufgaben der Kunst im Leben des Menschen und des Soziums haben.
Wollen wir nicht in der Rolle von Richtern und Polizisten auftreten, so ist unser Schicksal die Rolle von Verbrechern und Revolutionären. Etwas Drittes gibt es nicht. Objektivität, Neutralität – folglich Gesetzestreue in dieser Frage – stellt uns sofort auf Seiten der Macht, d.h. jenseits nicht nur des Verbrechens, sondern auch der Kunst, und damit diesseits des Gesetzes. Das determiniert unsere Lösung dieses vornehmlich praktischen Problems.
Die Folge ist ein einseitiges Kunstverständnis: entweder utilitaristisch-dekorativ oder sinnlich-unterhaltend, oder, drittens, als bildhafter Ausdruck eines bestimmten Wahrheits-Wissens, d.h. ein intellektualistisches Verständnis. In jedem Fall haben wir es mit einer überdeterminierten Wahl zu tun, bedingt durch den sozialen, politischen und letztlich den ökonomischen Status dessen, der die Wahl trifft. Und wenn die ersten beiden Positionen charakteristisch sind für interessierte Personen des dialektischen Paares Sklave – Herrscher, so ist die dritte Position den Intellektuellen vertraut, die weder zu physischer Arbeit noch zu kapitalistischer Verwaltung neigen. Aber die Strategie zielt in jedem Fall darauf ab, die vorgefundene Lage der Dinge in der Gesellschaft zu bewahren, entweder in Form der ökonomischen und politischen Macht oder in Form des Macht-Wissens, das die Welt bestimmten ewigen Naturgesetzen unterordnet, die letztendlich die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen rechtfertigen.
Anspruch auf Objektivität können derartige Ansätze natürlich nur auf äußerst spezifische Weise erheben – im Sinne einer gewaltsamen Durchsetzung der von ihnen angebotenen Strategie. Das meinte ich, als ich vom praktischen Charakter unserer Frage gesprochen habe. Und daher sind wir ebenfalls gezwungen, vom subjektiven Interesse auszugehen, vom Interesse des Menschen, der weder ausbeuten will, noch ausgebeutet werden will, und zwar weder direkt noch indirekt, durch ein System staatlicher und öffentlicher Institutionen. Daß uns eine solche Position zu Verbrechern macht, zu "Verdammten", ist weder ein Paradoxon, noch ein effektvoller Ausdruck.
Michel Foucault z.B. sah die Aufgabe des Intellektuellen bei der Lösung dieses Problems nicht darin, "sich an die Spitze oder an die Seite aller zu stellen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen. Vielmehr hat er dort gegen die Macht zu kämpfen, wo er gleichzeitig deren Objekt und deren Instrument ist: in der Ordnung des 'Wissens', der 'Wahrheit', des 'Bewußtseins', des 'Diskurses'". [Gespräch mit Deleuze, in: Von der Subversion des Wissens, 108]. Folgen wir dieser methodologischen Annahme, müssen wir selber manche Gesetze verletzen, denen die wissenschaftliche Gemeinschaft stillschweigend zustimmt und die die Wissenschaftler gegen ihren Willen zu einem Teil des Machtsystems machen, und wir müssen den Verbrechern die Möglichkeit geben zu sprechen, auch durch uns selbst, d.h. wir müssen selber, soweit dies möglich ist, zu Verbrechern zu werden.
Paradoxerweise macht nur eine solche parteiische subjektive Entscheidung es dem Theoretiker möglich, die Frage nach den Wechselbeziehungen von Gesetz, Macht und Begehren in der Kunst und nach dem Platz des Politischen in der Kunst und im Schaffen objektiv und genau zu stellen. Dem widerspricht keineswegs der Umstand, daß wir von Beginn an sowohl auf einen juristischen Lösungsweg der gestellten Frage verzichtet haben, der die angelsächsische Philosophietradition kennzeichnet, als auch auf die simulative Transgression in der Kunst, der für die kontinental-bürgerliche Tradition charakteristisch ist, die die "echte" Kriminalität bloß imitiert, jedoch nicht wirklich versucht, die von der Macht für die Kunst festgelegten Grenzen des Erlaubten, der ästhetischen Standards, der ästhetischen Normen etc. zu übertreten.
Vertrauter erscheint uns eine Tendenz in der Kunstphilosophie, die jener Kunstrichtung den Weg zu einer eigenen Sprache ebnen will, die mit der Übertretung als einer Äußerung der Intensität des Begehrens verbunden ist. Ich meine vor allem Michel Foucault und Gille Deleuze und Felix Guattari.
Es sei daran erinnert, daß das Begehren, von dem die Rede ist, keine anderen Ziele verfolgt außer dem Tod. Vor allen den Tod des Subjektes. Der Held der Tragödie stirbt auf jeden Fall. In der Form eines Paradoxons kann man sagen, daß das Subjekt, der Staat und auch die Gesellschaft sterben müssen, damit man außerhalb solcher extensiver ökonomischer Transformationsmodelle und einer Utilitarisierung des Wunsches leben kann. Und die Tragödie hat in der Tat keine anderen Ziele, außer dem Bewußtwerden und dem Erleben des Todes als des ersehnten Ufers auf dem Weg des menschlichen Lebens. Einem Bewußtwerden, das den Wunsch nach einem zielgerichteten Leben im Einklang mit sich selbst und mit anderen weckt.
Für einen derartigen durch den Tod aufgeladenen Wunsch existiert das Thema des Verbrechens als Verletzung des Gesetzes nicht. Deuleuze und Guattari zufolge beweise das Gesetz nichts hinsichtlich der ursprünglichen Realität des Wunsches und die Übertretung beweise nichts hinsichtlich der funktionalen Realität des Gesetzes, da sie selbst im Vergleich zu dem, was das Gesetz wirklich verbietet, lächerlich klein sei (daher haben Revolutionen nichts mit Übertretung gemein).
Das, was vom Gesetz verboten ist, und das, was bei seiner Über-Tretung verletzt wird, – sind verschiedene Dinge. Das Gesetz steht vor allem der Revolution im Wege, nicht aber der Übertretung. Es erzeugt Gesetzeswidrigkeiten durch die Transformation und die Entstellung der Wege des Begehrens. Das Beispiel des Inzestverbotes, präziser die Konstruktion des Inzestbegriffes in den Frühstadien der Menschheitsentwicklung, demonstriert diese Situation am deutlichsten. Deleuze und Guattari haben beschrieben, daß der Despot als erster zum königlichen Inzest greift, sich mit der Mutter und der Tochter vereinigt, dann aber seine kläglichen Nachahmer "aus dem Volk" bestraft, um dadurch die eigene Nützlichkeit für die Entwicklungsperspektive der Gesellschaft zu begründen. Eine derartige Repression treibt den Wunsch in eine raffinierte Falle, zwingt ihm ein verbotenes Wunschobjekt auf.
Die Unmöglichkeit des Inzests bedeutet allerdings Deleuze und Guattari zufolge noch keine Lösung des Problems der Gewalt gegenüber anderen.
Damit kommen wir zur Frage nach den Kriterien eines intensiven und extensiven Wunsches. Schließlich müssen wir im modernen medialen Raum die totale Transformierbarkeit aller gedanklichen Positionen, aller sexuellen und politischen Orientierungen in Betracht ziehen. Daher ist das Simulakrum das erste, worauf wir stoßen, wenn wir über moderne Kunst reden. Und die Aufgabe besteht nicht darin, an die Realität und Wahrheit zu gelangen, sondern darin, den politischen Sinn von Simulakren zu bewerten, sie zu unterscheiden.
Im folgenden möchte ich versuchen, die revolutionäre Methodologie von Foucault und Deleuze zur Interpretation der bekanntesten Moskauer künstlerischen Aktionen und Performances der 90er Jahre heranzuziehen.
Der künstlerische Aktionismus der 90er Jahre war eine Folge des endgültigen Zusammenbruchs des revolutionären Projektes der Sowjetunion und eine Reaktion auf die Versuche der neuen Macht, dieses Projekt durch eine Rückkehr zu den traditionellen nationalen Werten zu ersetzen – zu einer starken Zentralgewalt und der Rechtgläubigkeit, unter Beibehaltung einer Reihe sowjetischer Tugenden – der kollektiven Hilfe, des sozialen Fortschritts usw., unter Beimischung von liberalen kapitalistischen Werten – dem Erfolgskult, dem freien Markt usw. Die Aktionen und Perfomances zielten auf die Kluft zwischen diesen vorher unversöhnlichen Werteordnungen, die Künstler wollten die künstliche Ideologizität ihrer absurden Konstellationen zeigen.
Als universale Bühne für die Durchführung solcher Aktionen erwies sich die Sexualität. Nach Foucault ist die Sexualität in einer Welt, in der nichts Heiliges mehr geblieben ist, die einzig mögliche Sphäre der Unterscheidbarkeit von Gefühlen. Meinte Foucault den Tod Gottes in der europäischen Kultur, so ist in unserem Falle vom Tod des sowjetischen Soziums die Rede. Es galt, die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis zu dieser Situation die Sexualität steht. Gibt es für sie eine Perspektive der Befreiung, oder geht es um das Aufkommen einer neuen, härteren Disziplinarordnung?
Unter diesen Bedingungen verstand die Macht ihre Aufgabe in dem Sinne, daß der Pornographie und der Prostitution Tür und Tor geöffnet werden müssen. Der Sex ist zweifellos ein Marktprodukt geworden, und der repressive Charakter der Sexualität im heutigen Rußland ist ebenso sichtbar wie in den entwickelten Ländern Westeuropas. Während der Perestrojka konnte von keinerlei Befreiung der Sexualität die Rede sein. Im Gegenteil, die Photoarbeiten von Boris Michajlov aus den 80er Jahren zeigen, daß die Sexualität in der Sowjetunion – natürlich nicht auf der Ebene der offiziellen Ideologie, sondern in der Tiefe der Alltagskultur – einen (in Analogie zu Foucault) unmittelbaren natürlichen Sinn erreichte, wie die Sexualität in der mittelalterlichen Welt der gefallenen Körper und der Sündenhaftigkeit. Unter diesen Bedingungen blieb den russischen Künstlern nichts anderes übrig, als die bereits schon entwerteten sowjetischen Symbole noch radikaler zu profanieren und die Grenzen der Moral zu übertreten, die die neue Macht weiterhin scheinheilig bewachte. Die Profanierung des Sakralen verlangte seine Resakralisierung in der Form der Abwesenheit. Und das war praktisch das einzige Verfahren einer echten Bewahrung des Sakralen.
Das russische obszöne Wort für Penis, das durch menschliche Körper 1991 auf dem Roten Platz in Moskau geformt wurde, war eine solche Profanierung und Transgression des sowjetischen semiotischen Raumes und zugleich eine aggressive Manifestation der sowjetischen Sexualität. Der Platz war durch ein neues profanes Symbol besetzt worden – durch das Auflegen des Phallus, genauer gesagt seines russischen Namens, auf das russische wie auf das sowjetische Heiligtum und auf den unausweichlich kommenden Kapitalismus.
Der Sinn der Aktion bestand in der gleichzeitigen Demonstration der Grenze der sowjetischen Sexualität, der Grenze des sowjetischen Bewußtseins sowie der einzigen Lesart des sowjetischen kollektiv Unbewußten. Unter Hinweis auf Foucault läßt sich sagen, diese Aktion habe bis an die Grenze des Gesetzes geführt, da gerade die Sexualität "die einzige absolut universale Sphäre des Verbots" darstellt. Und Osmolovskijs Antwort auf dieses Verbot nach dem Muster von 1991 ist, so denke ich, allen verständlich. Sie führt uns bis an die Grenze der russischen Sprache: Die in dem Wunsch, alle im wörtlichen Sinne "auf den Schwanz" (na chuj) zu schicken, ausgedrückte sowjetische Sexualität "bezeichnet die Spur aus Schaum, bis zu der sie gerade noch auf dem Sand des Schweigens gelangen kann" (Foucault). Im direkten Sinne des Wortes führt eine solche Sexualität nicht um die Aktionisten herum, wobei diese isoliert und markiert würden, sondern zieht die Grenze in sie hinein, so daß die Grenze und sie selbst als Grenze markiert werden.
Die Profanierung des Sakralen war ebenfalls ein zentrales Thema bekannter Aktionen von Awdej Ter-Oganjan und Aleksandr Brener. Beide Projekte, das sei gesagt, gefallen mir sehr. Ist es etwa nicht komisch, auf Ikonen die Aufschrift "Gott ist ein Dummkopf", oder "Gott gibt es nicht" zu lesen? Hat das Quadrat von Malevič etwa keinen aufgemalten Dollar verdient? Wenn Malevič eine solche Möglichkeit nicht in Betracht gezogen und ihn nicht selbst hinzu gemalt hat, so könnte man ihn schließlich dafür kritisieren. Der politische Sinn dieser Aktionen ist aber ambivalent. Den Tod Gottes an einem Ort zu verkünden, wo er auch so schon lange tot ist [und das auf billigen Reproduktionen und nicht auf echten Ikonen], ist einfach nicht radikal genug. Hier zeigt sich die Quasi-Religiösität von Ter-Oganjan. Gott wird hier im Namen rekonstruiert, der Angriff aber auf rechtgläubige Heiligtümer wird von der Macht völlig zu Recht als eine Straftat betrachtet. Denn leider ist die Aktion auch für den Künstler nichts anderes. Er begeht ein Verbrechen und eben keine revolutionäre politische Aktion.
Der verbrecherische Impuls der meisten Aktionen von Brener ist verständlich – unter den Bedingungen der Niederlage des sowjetischen sozialen Projektes blieb nichts anderes übrig, als sein eigenes Heldentum vor dem Hintergrund einer wachsenden Passivität der russischen Gesellschaft zu demonstrieren. Die Folge aber ist der subjektive Charakter der meisten seiner Projekte. Den Künstler interessieren bloß rein subjektive Rechtfertigungen seiner Kunst – wie er sich selbst sehen möchte unter den neuen sozialen Bedingungen, die scheinbar durch niemanden mehr zu verändern sind. Diese Projekte haben kein soziales revolutionäres Programm und bleiben die persönliche Angelegenheit von Brener. In dieser Situation sind die rechten und die linken Künstler in den Augen der Macht absolut gleichgestellt, da die Macht ihre eigene Negation zu inkorporieren vermag. Mehr noch, sie vermag die Künstler intensiv in den PR-Technologien zu nutzen.
Unter den Bedingungen der Marktökonomie ist das Verbrechen ebenso eine Ware, wie auch jede kommerzielle Tätigkeit. Und wenn der Künstler eine Straftat begeht, so tauscht er sie auf diesem Markt bloß gegen die Strafverfolgung und die entsprechende Strafe ein. Und genau eine solche Verfolgung durch die Macht ist das Ziel der meisten künstlerischen Aktionen dieser Art. Nur die Strafe verleiht ihnen die geschlossene Form eines Marktprodukts. D.h., die Aktionen dezentrieren weder die im kapitalistischen System geltenden Spielregeln, noch suspendieren sie diese.
Eine völlig andere Strategie hatte die Aktion der Gruppe "Radek" unter der Leitung von Osmolovskij, bei der sie vor den Wahlen von 1996 auf das Lenin-Mausoleum vordrang und das Plakat "Gegen alle" aufhängte. Auf den ersten Blick ging es um eine rein politische Aktion, aber die Künstler repräsentierten keinerlei öffentlicht politische Kraft oder Gruppierung. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Propaganda eines Wahlverhaltes "gegen alle Parteien" und der Organisation einer Partei "Gegen alle". Die Aktion eröffnete der künstlerischen Intelligenz und den Intellektuellen die Möglichkeit einer aktiven Teilnahme an den Wahlen, ohne sich dabei mit den Vogelscheuchen der personifizierten Politik zu identifizieren. Man konnte im Falle eines bestimmten Prozentsatzes von Gegenstimmen auf ein völlig legales Procedere des Austauschs aller Kandidaten hoffen, die Anspruch auf Machtposten erhoben. Aber den Polittechnologen gelang es im Folgenden, auch diese Idee zu korrumpieren, indem sie Geld in sie investierten. Es wurden Schauspieler engagiert, die nicht nur die Idee dieser Aktion verdrehten, sondern sie auch noch in eine politische Ware verwandelten. Übrigens hatte niemand nach Autorenrechten gefragt oder gar etwas bezahlt.
Daher hat sich die Taktik der künstlerischen Aktionen heute grundlegend gewandelt. "Radek" versucht, sich der Ausbeutung von Innovationen der Künstler durch Polittechnologen zu widersetzen. Sie beginnen, deren mögliche politische Nutzung selber zu thematisieren. Am interessantesten sind aus meiner Sicht die Aktionen "Barrikade" und "Straßenübergang". Die Sperrung, Verbarrikadierung der Straße, die direkt zum Kreml führt, durch unrealistische Losungen wie die Forderung nach Legalisierung des Drogenkonsums, durch Plakate mit Mitgliedern der RAF und französische Transparente von 1968, war natürlich eine rein künstlerische, symbolische Aktion. Die Miliz hatte aber Langezeit nichts Ähnliches gesehen und konnte diese Manifestation nicht sofort unterdrücken. Die Künstler nutzten bereits selbst polittechnologische Verfahren, indem sie sich durch ausländische Journalisten schützten, das Geschehen auf Video dokumentierten u.ä. Die Miliz konnte nicht eingreifen, da man dies im Westfernsehen durchaus als eine Niederschlagung einer realen Barrikade und einer studentischen Revolte zeigen konnte. Bei näherer Betrachtung wurde sichtbar, daß dies bloß Dekorationen waren, bloß eine massenhafte Straßenperformance und keine politische Aktion.
[Die zweite Aktion war bescheidener, aber nicht weniger raffiniert. Es gibt in Moskau einen Straßenübergang, bei dem das grüne Licht für die Fußgänger nur sehr selten angeht und daher immer sehr viele Menschen auf dieses warten. Die Künstler haben sich unter die Menge gemischt und mit dem grünen Licht politische Plakate aufgerollt. Von der anderen Straßenseite wurde dies gefilmt und es gab den Eindruck einer realen Demonstration, für die man keine Genehmigung einholen mußte.]
Die Notwendigkeit, sich der Theatralität zuzuwenden, einer Art Maske, und letztendlich der Erarbeitung einer künstlerischen Form entsteht eben aus der Ununterscheidbarkeit zwischen einer Straftat und den Erscheinungsformen eines intensiven Begehrens in der modernen Welt. Wir leben eben leider nicht in der Urgesellschaft, sondern in der Welt hochtechnologisierter Simulakren. Wir kennen die Gesetze, und sind bereits infiziert vom Vergnügen, diese zu verletzen. Daher ist die Hinwendung zur Maske eine Art reflexives Instrument, das es erlaubt, unabhängig von unserem Willen die vom Sozium geformte Subjektivität zu kontrollieren, sie zu suspendieren und dabei die Distanz der Nichtübereinstimmung mit sich selbst zu wahren. Mit anderen Worten, die Intensität des Begehrens kann heute in vollem Maße nur in künstlerischer Form, auf der Bühne der Kunst entfaltet werden. Anders gesagt, die Theaterbühne ist die einzige Bühne, auf der man heute mit der Macht zusammentreffen und spielen kann, und zwar nicht auf ihrem Feld und nicht nach ihren Spielregeln. Das ist aber ein Spiel mit ihr selbst, und nicht mit den von ihr engagierten Schauspielern – den Polizisten, den Militärs usw. Die Möglichkeit, dies zu erreichen, verlangt, daß man die inzestartige Allianz zwischen der Gesellschaft und der Macht auf raffinierte Weise umgeht – der Künstler attackiert nicht die Vertreter der Gesellschaft durch direkte physische Gewalt, und diese nutzen daher nicht die Dienste des repressiven Staatsapparates. Und durch eine harmlose Täuschung der Gesellschaft – die Menschen glauben, daß sie als Zuschauer ins Theater oder in eine Ausstellung kommen, werden aber von den Künstlern jedesmal in eine Massenszene transformiert, und dann in einen altgriechischen Chor, d.h. in reale Teilnehmer der aufgeführten Tragödie.


***
Für die Polizei erscheinen die meisten der von uns behandelten Aktionen als Verbrechen, woraus allerdings nicht zu schließen ist, daß alle Aktionen vom politischen Standpunkt gerechtfertigt sind, daß sich alle gegen die Macht richten, daß sie alle das politische System kritisieren.
So verkehrt sich z.B. die Profanierung des Sakralen in Form einer positiven Behauptung bei Brener, Sorokin und einer Reihe anderer Medhermeneutiker und Neoakademiker in ihr Gegenteil, wobei Simulakren einer "linken", "unabhängigen" oder "kritischen" Kunst entstehen. Dabei ist Sorokin mit den "Zusammen Gehenden" gleichzustellen, sie arbeiten im Tandem. Brener indes erweist sich als Urvater der Randalierer der Ausstellung "Vorsicht – Religion" im Sacharow-Zentrum in Moskau. Das ist ironische Dialektik.
Der Verbrecher und der Künstler befinden sich ursprünglich in gleichen Bedingungen gegenüber der Institution der Macht und des Gesetzes. Beide streben nach Befriedigung des in traumatischen sozialen Bedingungen geformten Begehrens und beide treffen auf die Macht des Gesetzes, die stets mit der unterschiedlichen Gerichtetheit der menschlichen Wünsche in der Gesellschaft spekuliert. Die Macht nimmt scheinheilig die Verantwortung und die Sorge um ihre Kommunikation und soziale Ausbalancierung auf sich. Der Künstler konkurriert in dieser Situation gerade mit der Macht, und schlägt der Gesellschaft alternative Modelle der wechselseitigen Willensbefriedigung vor. Der Verbrecher befriedigt hingegen sein Begehren ohne die Freiheit des anderen Menschen zu berücksichtigen, er handelt analog zu den Strafmechanismen der Macht. Was im Verbrechen verletzt wird – die Freiheit des anderen Menschen – ist das ewige Alibi der Existenz der Macht. Aber in dieser Situation strebt die Macht nach einer Befriedigung des Begehrens ihrer Repräsentanten. Sie tauscht geschickt den Gegenstand des Streits aus – die Freiheit des Opfers eines Verbrechens gegen die Verletzung eines abstrakten Gesetzes, wobei die Verfolgung eben wegen dieser Verletzung geschieht und nicht wegen der Attacke auf diese Freiheit. Dieser Mechanismus bedingt, daß sich daß Gesetz letztendlich auf das Opfer eines Verbrechens in nicht geringerem Maße erstreckt, als auf den Verbrecher. In diesem Sinne verbietet das Gesetz mehr als das, was im Verbrechen verletzt wird: es verbietet dem Opfer, die wahren Ursachen seiner Tragödie aufzudecken – das Fehlen der sozialen Freiheit und der Möglichkeit, für sie zu kämpfen.
In dieser Situation müssen die Künstler dieses "etwas Größere" verletzen, um nicht in die Falle zu geraten, das Begehren als ein vom Gesetz determiniertes zu verstehen. Die Kunst muß mit ihren Kräften für eine Gesellschaft kämpfen, in der es überhaupt keine Grenzen gibt, deren Übertretung verboten ist, d.h. für eine kommunistische Gesellschaft, oder für ein würdiges Leben in jenen Gesellschaft, zu denen wir historisch verurteilt sind.