Auf den ersten Anblick scheint es eine rein theoretische Aufgabe zu sein, den
Unterschied zu markieren zwischen der Kunst als Verbrechen, d.h. einer Übertretung
der gewohnten Wahrnehmungsgrenzen, der Gesamtheit der wechselseitigen
Beziehungen der Dinge und der Menschen, und dem Verbrechen als einem
Straftatbestand, dem der Künstler – mit
dem Recht des von ihm entwickelten sozialen Projektes oder der
Performance – den Rahmen eines Kunstwerkes gibt, d.h. dem Verbrechen als
Kunst. Denkt man weiter über dieses Thema nach, wird aber klar, daß man in diesem Fall
unmöglich eine objektive und logische Position einnehmen kann, neutral und
gleichgültig gegenüber dem zu erforschenden Gegenstand. Eine solche Unterscheidung läßt sich nur treffen, wenn man zuvor die Begriffe
"Kunst" und "Verbrechen" definiert. Dabei geraten wir sofort in
Streit mit der sozialen Realität, mit den Institutionen der Macht u.ä.,
denn Gegenstand der Diskussion sind keineswegs abstrakte ästhetische Fragen,
sondern einerseits reale künstlerische Praktiken und, andererseits,
Verbrechens- und Strafpraktiken, komplizierte Beziehungen zwischen Künstlern
und Vertretern der Macht, die unterschiedliche Vorstellungen vom Platz und
von den Aufgaben der Kunst im Leben des Menschen und des Soziums haben. Wollen wir nicht in der Rolle von Richtern und Polizisten auftreten, so ist unser
Schicksal die Rolle von Verbrechern und Revolutionären. Etwas Drittes gibt
es nicht. Objektivität, Neutralität – folglich Gesetzestreue in dieser
Frage – stellt uns sofort auf Seiten der Macht, d.h. jenseits nicht nur
des Verbrechens, sondern auch der Kunst, und damit diesseits des Gesetzes.
Das determiniert unsere Lösung dieses vornehmlich praktischen Problems. Die Folge ist ein einseitiges Kunstverständnis: entweder
utilitaristisch-dekorativ oder sinnlich-unterhaltend, oder, drittens, als
bildhafter Ausdruck eines bestimmten Wahrheits-Wissens, d.h. ein
intellektualistisches Verständnis. In jedem Fall haben wir es mit einer überdeterminierten
Wahl zu tun, bedingt durch den sozialen, politischen und letztlich den ökonomischen
Status dessen, der die Wahl trifft. Und wenn die ersten beiden Positionen
charakteristisch sind für interessierte Personen des dialektischen Paares
Sklave – Herrscher, so ist die dritte Position den Intellektuellen
vertraut, die weder zu physischer Arbeit noch zu kapitalistischer Verwaltung
neigen. Aber die Strategie zielt in jedem Fall darauf ab, die vorgefundene
Lage der Dinge in der Gesellschaft zu bewahren, entweder in Form der ökonomischen
und politischen Macht oder in Form des Macht-Wissens, das die Welt
bestimmten ewigen Naturgesetzen unterordnet, die letztendlich die Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen rechtfertigen. Anspruch auf Objektivität können derartige Ansätze natürlich nur auf äußerst
spezifische Weise erheben – im Sinne einer gewaltsamen Durchsetzung der
von ihnen angebotenen Strategie. Das meinte ich, als ich vom praktischen
Charakter unserer Frage gesprochen habe. Und daher sind wir ebenfalls
gezwungen, vom subjektiven Interesse auszugehen, vom Interesse des Menschen,
der weder ausbeuten will, noch ausgebeutet werden will, und zwar weder
direkt noch indirekt, durch ein System staatlicher und öffentlicher
Institutionen. Daß uns eine solche Position zu Verbrechern macht, zu "Verdammten",
ist weder ein Paradoxon, noch ein effektvoller Ausdruck. Michel Foucault z.B. sah die Aufgabe des Intellektuellen bei der Lösung dieses
Problems nicht darin, "sich an die Spitze oder an die Seite aller zu
stellen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen. Vielmehr hat er dort gegen
die Macht zu kämpfen, wo er gleichzeitig deren Objekt und deren Instrument
ist: in der Ordnung des 'Wissens', der 'Wahrheit', des 'Bewußtseins',
des 'Diskurses'". [Gespräch mit Deleuze, in: Von der Subversion des
Wissens, 108]. Folgen wir dieser methodologischen Annahme, müssen wir
selber manche Gesetze verletzen, denen die wissenschaftliche Gemeinschaft
stillschweigend zustimmt und die die Wissenschaftler gegen ihren Willen zu
einem Teil des Machtsystems machen, und wir müssen den Verbrechern die Möglichkeit
geben zu sprechen, auch durch uns selbst, d.h. wir müssen selber, soweit
dies möglich ist, zu Verbrechern zu werden. Paradoxerweise macht nur eine solche parteiische subjektive Entscheidung es dem Theoretiker
möglich, die Frage nach den Wechselbeziehungen von Gesetz, Macht und
Begehren in der Kunst und nach dem Platz des Politischen in der Kunst und im
Schaffen objektiv und genau zu stellen. Dem widerspricht keineswegs der
Umstand, daß wir von Beginn an sowohl auf einen juristischen Lösungsweg
der gestellten Frage verzichtet haben, der die angelsächsische
Philosophietradition kennzeichnet, als auch auf die simulative Transgression
in der Kunst, der für die kontinental-bürgerliche Tradition
charakteristisch ist, die die "echte" Kriminalität bloß imitiert,
jedoch nicht wirklich versucht, die von der Macht für die Kunst
festgelegten Grenzen des Erlaubten, der ästhetischen Standards, der ästhetischen
Normen etc. zu übertreten. Vertrauter erscheint uns eine Tendenz in der Kunstphilosophie, die jener Kunstrichtung
den Weg zu einer eigenen Sprache ebnen will, die mit der Übertretung als
einer Äußerung der Intensität des Begehrens verbunden ist. Ich meine vor
allem Michel Foucault und Gille Deleuze und Felix Guattari. Es sei daran erinnert, daß das Begehren, von dem die Rede ist, keine anderen
Ziele verfolgt außer dem Tod. Vor allen den Tod des Subjektes. Der Held der
Tragödie stirbt auf jeden Fall. In der Form eines Paradoxons kann man sagen,
daß das Subjekt, der Staat und auch die Gesellschaft sterben müssen, damit
man außerhalb solcher extensiver ökonomischer Transformationsmodelle und
einer Utilitarisierung des Wunsches leben kann. Und die Tragödie hat in der
Tat keine anderen Ziele, außer dem Bewußtwerden und dem Erleben des Todes
als des ersehnten Ufers auf dem Weg des menschlichen Lebens. Einem Bewußtwerden,
das den Wunsch nach einem zielgerichteten Leben im Einklang mit sich selbst
und mit anderen weckt. Für einen derartigen durch den Tod aufgeladenen Wunsch existiert das Thema des
Verbrechens als Verletzung des Gesetzes nicht. Deuleuze und Guattari zufolge
beweise das Gesetz nichts hinsichtlich der ursprünglichen Realität des
Wunsches und die Übertretung beweise nichts hinsichtlich der funktionalen
Realität des Gesetzes, da sie selbst im Vergleich zu dem, was das Gesetz
wirklich verbietet, lächerlich klein sei (daher haben Revolutionen nichts
mit Übertretung gemein). Das, was vom Gesetz verboten ist, und das, was bei seiner Über-Tretung verletzt
wird, – sind verschiedene Dinge. Das Gesetz steht vor allem der Revolution
im Wege, nicht aber der Übertretung. Es erzeugt Gesetzeswidrigkeiten durch
die Transformation und die Entstellung der Wege des Begehrens. Das Beispiel
des Inzestverbotes, präziser die Konstruktion des Inzestbegriffes in den Frühstadien
der Menschheitsentwicklung, demonstriert diese Situation am deutlichsten.
Deleuze und Guattari haben beschrieben, daß der Despot als erster zum königlichen
Inzest greift, sich mit der Mutter und der Tochter vereinigt, dann aber
seine kläglichen Nachahmer "aus dem Volk" bestraft, um dadurch die
eigene Nützlichkeit für die Entwicklungsperspektive der Gesellschaft zu
begründen. Eine derartige Repression treibt den Wunsch in eine raffinierte
Falle, zwingt ihm ein verbotenes Wunschobjekt auf. Die Unmöglichkeit des Inzests bedeutet allerdings Deleuze und Guattari zufolge
noch keine Lösung des Problems der Gewalt gegenüber anderen. Damit kommen wir zur Frage nach den Kriterien eines intensiven und extensiven
Wunsches. Schließlich müssen wir im modernen medialen Raum die totale
Transformierbarkeit aller gedanklichen Positionen, aller sexuellen und
politischen Orientierungen in Betracht ziehen. Daher ist das Simulakrum das
erste, worauf wir stoßen, wenn wir über moderne Kunst reden. Und die
Aufgabe besteht nicht darin, an die Realität und Wahrheit zu gelangen,
sondern darin, den politischen Sinn von Simulakren zu bewerten, sie zu
unterscheiden. Im folgenden möchte ich versuchen, die revolutionäre Methodologie von
Foucault und Deleuze zur Interpretation der bekanntesten Moskauer künstlerischen
Aktionen und Performances der 90er Jahre heranzuziehen. Der künstlerische Aktionismus der 90er Jahre war eine Folge des endgültigen
Zusammenbruchs des revolutionären Projektes der Sowjetunion und eine
Reaktion auf die Versuche der neuen Macht, dieses Projekt durch eine Rückkehr
zu den traditionellen nationalen Werten zu ersetzen – zu einer starken
Zentralgewalt und der Rechtgläubigkeit, unter Beibehaltung einer Reihe
sowjetischer Tugenden – der kollektiven Hilfe, des sozialen Fortschritts
usw., unter Beimischung von liberalen kapitalistischen Werten – dem
Erfolgskult, dem freien Markt usw. Die Aktionen und Perfomances zielten auf
die Kluft zwischen diesen vorher unversöhnlichen Werteordnungen, die Künstler
wollten die künstliche Ideologizität ihrer absurden Konstellationen zeigen. Als universale Bühne für die Durchführung solcher Aktionen erwies sich die
Sexualität. Nach Foucault ist die Sexualität in einer Welt, in der nichts
Heiliges mehr geblieben ist, die einzig mögliche Sphäre der
Unterscheidbarkeit von Gefühlen. Meinte Foucault den Tod Gottes in der
europäischen Kultur, so ist in unserem Falle vom Tod des sowjetischen
Soziums die Rede. Es galt, die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis
zu dieser Situation die Sexualität steht. Gibt es für sie eine Perspektive
der Befreiung, oder geht es um das Aufkommen einer neuen, härteren
Disziplinarordnung? Unter diesen Bedingungen verstand die Macht ihre Aufgabe in dem Sinne, daß der
Pornographie und der Prostitution Tür und Tor geöffnet werden müssen. Der
Sex ist zweifellos ein Marktprodukt geworden, und der repressive Charakter
der Sexualität im heutigen Rußland ist ebenso sichtbar wie in den
entwickelten Ländern Westeuropas. Während der Perestrojka konnte von
keinerlei Befreiung der Sexualität die Rede sein. Im Gegenteil, die
Photoarbeiten von Boris Michajlov aus den 80er Jahren zeigen, daß die
Sexualität in der Sowjetunion – natürlich nicht auf der Ebene der
offiziellen Ideologie, sondern in der Tiefe der Alltagskultur – einen (in
Analogie zu Foucault) unmittelbaren natürlichen Sinn erreichte, wie die
Sexualität in der mittelalterlichen Welt der gefallenen Körper und der Sündenhaftigkeit.
Unter diesen Bedingungen blieb den russischen Künstlern nichts anderes übrig,
als die bereits schon entwerteten sowjetischen Symbole noch radikaler zu
profanieren und die Grenzen der Moral zu übertreten, die die neue Macht
weiterhin scheinheilig bewachte. Die Profanierung des Sakralen verlangte
seine Resakralisierung in der Form der Abwesenheit. Und das war praktisch
das einzige Verfahren einer echten Bewahrung des Sakralen. Das russische obszöne Wort für Penis, das durch menschliche Körper 1991 auf
dem Roten Platz in Moskau geformt wurde, war eine solche Profanierung und
Transgression des sowjetischen semiotischen Raumes und zugleich eine
aggressive Manifestation der sowjetischen Sexualität. Der Platz war durch
ein neues profanes Symbol besetzt worden – durch das Auflegen des Phallus,
genauer gesagt seines russischen Namens, auf das russische wie auf das
sowjetische Heiligtum und auf den unausweichlich kommenden Kapitalismus. Der Sinn der Aktion bestand in der gleichzeitigen Demonstration der Grenze der
sowjetischen Sexualität, der Grenze des sowjetischen Bewußtseins sowie der
einzigen Lesart des sowjetischen kollektiv Unbewußten. Unter Hinweis auf
Foucault läßt sich sagen, diese Aktion habe bis an die Grenze des Gesetzes
geführt, da gerade die Sexualität "die einzige absolut universale Sphäre
des Verbots" darstellt. Und Osmolovskijs Antwort auf dieses Verbot nach
dem Muster von 1991 ist, so denke ich, allen verständlich. Sie führt uns
bis an die Grenze der russischen Sprache: Die in dem Wunsch, alle im wörtlichen
Sinne "auf den Schwanz" (na chuj) zu schicken, ausgedrückte
sowjetische Sexualität "bezeichnet die Spur aus Schaum, bis zu der sie
gerade noch auf dem Sand des Schweigens gelangen kann" (Foucault). Im
direkten Sinne des Wortes führt eine solche Sexualität nicht um die
Aktionisten herum, wobei diese isoliert und markiert würden, sondern zieht
die Grenze in sie hinein, so daß die Grenze und sie selbst als Grenze
markiert werden. Die Profanierung des Sakralen war ebenfalls ein zentrales Thema bekannter
Aktionen von Awdej Ter-Oganjan und Aleksandr Brener. Beide Projekte, das sei
gesagt, gefallen mir sehr. Ist es etwa nicht komisch, auf Ikonen die
Aufschrift "Gott ist ein Dummkopf", oder "Gott gibt es nicht" zu
lesen? Hat das Quadrat von Malevič etwa keinen aufgemalten Dollar
verdient? Wenn Malevič eine solche Möglichkeit nicht in Betracht
gezogen und ihn nicht selbst hinzu gemalt hat, so könnte man ihn schließlich
dafür kritisieren. Der politische Sinn dieser Aktionen ist aber ambivalent.
Den Tod Gottes an einem Ort zu verkünden, wo er auch so schon lange tot ist
[und das auf billigen Reproduktionen und nicht auf echten Ikonen], ist
einfach nicht radikal genug. Hier zeigt sich die Quasi-Religiösität von
Ter-Oganjan. Gott wird hier im Namen rekonstruiert, der Angriff aber auf
rechtgläubige Heiligtümer wird von der Macht völlig zu Recht als eine
Straftat betrachtet. Denn leider ist die Aktion auch für den Künstler
nichts anderes. Er begeht ein Verbrechen und eben keine revolutionäre
politische Aktion. Der verbrecherische Impuls der meisten Aktionen von Brener ist verständlich –
unter den Bedingungen der Niederlage des sowjetischen sozialen Projektes
blieb nichts anderes übrig, als sein eigenes Heldentum vor dem Hintergrund
einer wachsenden Passivität der russischen Gesellschaft zu demonstrieren.
Die Folge aber ist der subjektive Charakter der meisten seiner Projekte. Den
Künstler interessieren bloß rein subjektive Rechtfertigungen seiner Kunst
– wie er sich selbst sehen möchte unter den neuen sozialen Bedingungen,
die scheinbar durch niemanden mehr zu verändern sind. Diese Projekte haben
kein soziales revolutionäres Programm und bleiben die persönliche
Angelegenheit von Brener. In dieser Situation sind die rechten und die
linken Künstler in den Augen der Macht absolut gleichgestellt, da die Macht
ihre eigene Negation zu inkorporieren vermag. Mehr noch, sie vermag die Künstler
intensiv in den PR-Technologien zu nutzen. Unter den Bedingungen der Marktökonomie ist das Verbrechen ebenso eine Ware, wie
auch jede kommerzielle Tätigkeit. Und wenn der Künstler eine Straftat
begeht, so tauscht er sie auf diesem Markt bloß gegen die Strafverfolgung
und die entsprechende Strafe ein. Und genau eine solche Verfolgung durch die
Macht ist das Ziel der meisten künstlerischen Aktionen dieser Art. Nur die
Strafe verleiht ihnen die geschlossene Form eines Marktprodukts. D.h., die
Aktionen dezentrieren weder die im kapitalistischen System geltenden
Spielregeln, noch suspendieren sie diese. Eine völlig andere Strategie hatte die Aktion der Gruppe "Radek" unter der
Leitung von Osmolovskij, bei der sie vor den Wahlen von 1996 auf das
Lenin-Mausoleum vordrang und das Plakat "Gegen alle" aufhängte. Auf den
ersten Blick ging es um eine rein politische Aktion, aber die Künstler repräsentierten
keinerlei öffentlicht politische Kraft oder Gruppierung. Es besteht ein großer
Unterschied zwischen der Propaganda eines Wahlverhaltes "gegen alle
Parteien" und der Organisation einer Partei "Gegen alle". Die Aktion
eröffnete der künstlerischen Intelligenz und den Intellektuellen die Möglichkeit
einer aktiven Teilnahme an den Wahlen, ohne sich dabei mit den
Vogelscheuchen der personifizierten Politik zu identifizieren. Man konnte im
Falle eines bestimmten Prozentsatzes von Gegenstimmen auf ein völlig
legales Procedere des Austauschs aller Kandidaten hoffen, die Anspruch auf
Machtposten erhoben. Aber den Polittechnologen gelang es im Folgenden, auch
diese Idee zu korrumpieren, indem sie Geld in sie investierten. Es wurden
Schauspieler engagiert, die nicht nur die Idee dieser Aktion verdrehten,
sondern sie auch noch in eine politische Ware verwandelten. Übrigens hatte
niemand nach Autorenrechten gefragt oder gar etwas bezahlt. Daher hat sich die Taktik der künstlerischen Aktionen heute grundlegend gewandelt.
"Radek" versucht, sich der Ausbeutung von Innovationen der Künstler
durch Polittechnologen zu widersetzen. Sie beginnen, deren mögliche
politische Nutzung selber zu thematisieren. Am interessantesten sind aus
meiner Sicht die Aktionen "Barrikade" und "Straßenübergang". Die
Sperrung, Verbarrikadierung der Straße, die direkt zum Kreml führt, durch
unrealistische Losungen wie die Forderung nach Legalisierung des
Drogenkonsums, durch Plakate mit Mitgliedern der RAF und französische
Transparente von 1968, war natürlich eine rein künstlerische, symbolische
Aktion. Die Miliz hatte aber Langezeit nichts Ähnliches gesehen und konnte
diese Manifestation nicht sofort unterdrücken. Die Künstler nutzten
bereits selbst polittechnologische Verfahren, indem sie sich durch ausländische
Journalisten schützten, das Geschehen auf Video dokumentierten u.ä. Die
Miliz konnte nicht eingreifen, da man dies im Westfernsehen durchaus als
eine Niederschlagung einer realen Barrikade und einer studentischen Revolte
zeigen konnte. Bei näherer Betrachtung wurde sichtbar, daß dies bloß
Dekorationen waren, bloß eine massenhafte Straßenperformance und keine
politische Aktion. [Die zweite Aktion war bescheidener, aber nicht weniger raffiniert. Es gibt in
Moskau einen Straßenübergang, bei dem das grüne Licht für die Fußgänger
nur sehr selten angeht und daher immer sehr viele Menschen auf dieses warten.
Die Künstler haben sich unter die Menge gemischt und mit dem grünen Licht
politische Plakate aufgerollt. Von der anderen Straßenseite wurde dies
gefilmt und es gab den Eindruck einer realen Demonstration, für die man
keine Genehmigung einholen mußte.] Die Notwendigkeit, sich der Theatralität zuzuwenden, einer Art Maske, und
letztendlich der Erarbeitung einer künstlerischen Form entsteht eben aus der Ununterscheidbarkeit
zwischen einer Straftat und den Erscheinungsformen eines intensiven
Begehrens in der modernen Welt. Wir leben eben leider nicht in der
Urgesellschaft, sondern in der Welt hochtechnologisierter Simulakren. Wir
kennen die Gesetze, und sind bereits infiziert vom Vergnügen, diese zu
verletzen. Daher ist die Hinwendung zur Maske eine Art reflexives
Instrument, das es erlaubt, unabhängig von unserem Willen die vom Sozium
geformte Subjektivität zu kontrollieren, sie zu suspendieren und dabei die
Distanz der Nichtübereinstimmung mit sich selbst zu wahren. Mit anderen
Worten, die Intensität des Begehrens kann heute in vollem Maße nur in künstlerischer
Form, auf der Bühne der Kunst entfaltet werden. Anders gesagt, die Theaterbühne
ist die einzige Bühne, auf der man heute mit der Macht zusammentreffen und
spielen kann, und zwar nicht auf
ihrem Feld und nicht nach ihren
Spielregeln. Das ist aber ein Spiel mit ihr selbst, und nicht mit den von
ihr engagierten Schauspielern – den Polizisten, den Militärs usw. Die Möglichkeit,
dies zu erreichen, verlangt, daß man die inzestartige Allianz zwischen der
Gesellschaft und der Macht auf raffinierte Weise umgeht – der Künstler
attackiert nicht die Vertreter der Gesellschaft durch direkte physische
Gewalt, und diese nutzen daher nicht die Dienste des repressiven
Staatsapparates. Und durch eine harmlose Täuschung der Gesellschaft – die
Menschen glauben, daß sie als Zuschauer ins Theater oder in eine
Ausstellung kommen, werden aber von den Künstlern jedesmal in eine
Massenszene transformiert, und dann in einen altgriechischen Chor, d.h. in
reale Teilnehmer der aufgeführten Tragödie.
*** Für die Polizei erscheinen die meisten der von uns behandelten Aktionen als
Verbrechen, woraus allerdings nicht zu schließen ist, daß alle Aktionen
vom politischen Standpunkt gerechtfertigt sind, daß sich alle gegen die
Macht richten, daß sie alle das politische System kritisieren. So verkehrt sich z.B. die Profanierung des Sakralen in Form einer positiven
Behauptung bei Brener, Sorokin und einer Reihe anderer Medhermeneutiker und
Neoakademiker in ihr Gegenteil, wobei Simulakren einer "linken", "unabhängigen"
oder "kritischen" Kunst entstehen. Dabei ist Sorokin mit den "Zusammen
Gehenden" gleichzustellen, sie arbeiten im Tandem. Brener indes erweist
sich als Urvater der Randalierer der Ausstellung "Vorsicht – Religion"
im Sacharow-Zentrum in Moskau. Das ist ironische Dialektik. Der Verbrecher und der Künstler befinden sich ursprünglich in gleichen
Bedingungen gegenüber der Institution der Macht und des Gesetzes. Beide
streben nach Befriedigung des in traumatischen sozialen Bedingungen
geformten Begehrens und beide treffen auf die Macht des Gesetzes, die stets
mit der unterschiedlichen Gerichtetheit der menschlichen Wünsche in der
Gesellschaft spekuliert. Die Macht nimmt scheinheilig die Verantwortung und
die Sorge um ihre Kommunikation und soziale Ausbalancierung auf sich. Der Künstler
konkurriert in dieser Situation gerade mit der Macht, und schlägt der
Gesellschaft alternative Modelle der wechselseitigen Willensbefriedigung vor.
Der Verbrecher befriedigt hingegen sein Begehren ohne die Freiheit des
anderen Menschen zu berücksichtigen, er handelt analog zu den
Strafmechanismen der Macht. Was im Verbrechen verletzt wird – die Freiheit
des anderen Menschen – ist das ewige Alibi der Existenz der Macht. Aber in
dieser Situation strebt die Macht nach einer Befriedigung des Begehrens
ihrer Repräsentanten. Sie tauscht geschickt den Gegenstand des Streits aus
– die Freiheit des Opfers eines Verbrechens gegen die Verletzung eines
abstrakten Gesetzes, wobei die Verfolgung eben wegen dieser Verletzung
geschieht und nicht wegen der Attacke auf diese Freiheit. Dieser Mechanismus
bedingt, daß sich daß Gesetz letztendlich auf das Opfer eines Verbrechens
in nicht geringerem Maße erstreckt, als auf den Verbrecher. In diesem Sinne
verbietet das Gesetz mehr als das, was im Verbrechen verletzt wird: es
verbietet dem Opfer, die wahren Ursachen seiner Tragödie aufzudecken –
das Fehlen der sozialen Freiheit und der Möglichkeit, für sie zu kämpfen. In dieser Situation müssen die Künstler dieses "etwas Größere"
verletzen, um nicht in die Falle zu geraten, das Begehren als ein vom Gesetz
determiniertes zu verstehen. Die Kunst muß mit ihren Kräften für eine
Gesellschaft kämpfen, in der es überhaupt keine Grenzen gibt, deren Übertretung
verboten ist, d.h. für eine kommunistische Gesellschaft, oder für ein würdiges
Leben in jenen Gesellschaft, zu denen wir historisch verurteilt sind.
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