Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Kunst & Verbrechen
Kaufen oder Klauen
Vladis Shapovalov
Ich klaue manchmal Bücher im Laden. Erstaunlicherweise habe ich keine Gewissensbisse dabei. Ich fühle mich leicht unheimlich und belustigt zugleich. Aber noch kein einziges Mal hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen der begangenen 'schlechten Tat'. Ich wurde noch nie geschnappt, obwohl ich an der Front des Buchdiebstahls sehr aktiv bin. Das spricht jedoch nicht von meiner Meisterschaft, sondern von der Verkäufer, ihre Ware vor Diebstahl zu schützen.
Ich begann, Bücher zu stehlen, als die Preise in Folge der verdammten Finanzkrise ins Unermeßliche stiegen. Obgleich die Verkäufer behaupten, dass die Anzahl der Diebstähle nicht gestiegen sei. Am Anfang gab ich mir Mühe, fair zu sein, gewissen Konventionen und Regeln zu beachten: ich kaufte ein Buch, stahl zwei, drei und senkte damit nur die überhöhten Buchpreise. Dazu hatte ich noch Mitleid mit den Verkäufern, weil ich glaubte, dass ihnen der gestohlene Wert vom Gehalt abgezogen würde. Als ich später begann, meine Diebstähle als eine Art Kulturpraktik zu begreifen, gingen diese Diebstahlskonventionen vollends in den Bereich der Ästhetik über. So im Stil von Micky und Melory Nox - alle ermorden ausser einem, der bevor er zusammenbricht noch ausrufen kann: "Das waren Micky und Melory !"
Zu jener Zeit trugen meine Freunde schon ohne schlechtes Gewissen ganze Bücherberge aus den Geschäften getragen.
Bücher klauen ist ganz leicht. Viele Leute stehlen und zwar sehr viel. Für die Geschäfte ist das kein Problem, sondern wird als eine natürliche Tatsache behandelt. Ein Käufer, der freien Zugang zu den Büchern hat, wird sicher einige mitgehen lassen. Vom Lohn der Verkäufer wird nichts abgezogen, sondern bei der Gewinnabrechnung wird ein gewisser Koeffizient berücksichtigt: das sind circa 300 Rubel in der Woche.
Also, man geht ins Geschäft und fragt den Verkäufer irgendetwas. Fragen oder intellektuelle Gespräche mit dem Freund lenken die Aufmerksamkeit ab.
"Haben Sie den 'Eindimensionalen Menschen' von Marcuse ?" - dieses Buch ist seit Jahren nirgendwo mehr zu haben. Nach der verneinenden Antwort greift man mit besorgtem Gesicht, leicht verwirrt und ohne lange zu wählen mit den Worten "Na gut, dann nehme ich eben das..." nach irgendeinen billigen Kram, kauft ihn und schlendert mit diesem in den Händen weiter durchs Geschäft, ohne dabei zu versäumen die für einen selbst wichtigen Veröffentlichungen zu stehlen.
Diebstahl in der Buchhandlung ist eines der banalsten und weitverbreitetsten Delikte. Aber für den traditionellen Intellektuellen gerade eine der schlimmsten Schandtaten. Der Intellektuelle, der erlesene Bücherkenner, der die Schönheit des Wortes schätzt, kann sich nicht vorstellen, dass Bücher gestohlen werden könnten. Die Mitarbeiter des Buchladens unterstützen diesen Mythos von ganzem Herzen: Plakate mit dem Text 'Diebstahl wird gesetzlich verfolgt' im Laden aufzuhängen hindert sie aber die feine Mentalität des russischen Intellektuellen, der von einem solchen Verdacht instantan beleidigt wäre. Der gleiche Intellektuelle wird Dich jedoch, falls er Dich erwischt, nicht verraten - da existiert so etwas wie ein unausgesprochenes Bündnis – sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er - nun angeregt - selbst etwas stehlen. Meine umfassende Praxis hat dies mehr als einmal bewiesen.
Neben diesen archaischen Mythologien der Intelligenz im Bewußtsein der Buchhändler existieren völlig konfliktlos die postmoderne Vorstellung der Entfremdung des Textes von der Realität. Ein Paradox.
Um das folgende Paradox, noch beeindruckendere Paradox zu erhellen, braucht man noch nicht einmal das Problem von Theorie und Praxis zu studieren. Auf die Frage hin, ob Sie nicht denken, dass manche der Texte, die man in ihren Geschäften verkauft, zu ihrem eigenen Diebstahl auffordern, hören wir die Antwort, dass diese Texte nur humanitäre Studien seien und in keiner nichts mit der Realität zu tun haben. Die Bibel dagegen steht in einer sehr direkten Verbindung zur Realität.
Und überhaupt, was diskutiert man. Stehlen darf man nicht, das ist nicht gut. Aber das ist es ja: das Stehlen ist nicht gut, aber auch nicht schlecht. Ursprünglich existiert kein Problem "kaufen oder klauen". Die Dichotomie von Gut und Böse und als Folge ihre Auflösung in die Entscheidung über Gutes und Schlechtes ist vollständig aufgezwungen vom herrschenden Diskurs und legitimierte durch einen phantomhaften gesellschaftlichen Willkür von Strafgesetzbuch, der Verfassung, der gesellschaftlichen Meinung, Moral, eins ethischen Kanons etc.
Ich begann zu stehlen, als mein bisher verdecktes Entscheidungsproblem durch den Preisanstieg ultra-aktualisiert wurde.
Die Unmöglichkeit des Besitzes (sein Fehlen) ist physisch, aber physische Kommunikation ist die intensivste. Solange ich ohne Schaden für mein Budget so viele Bücher kaufen konnte, wie ich brauchte, klaute ich nicht und sogar heute ist es so: wenn ich Geld habe, kaufe ich Bücher. Wenn nicht, dann klaue ich.
Wenn du Geld hast- kaufe, wenn nicht dann klaue. Aber tabuisiere das Thema nicht durch diesen Dir aufgezwungenen repressiven Diskurs zwischen Gutem und Bösem. Weder die erste noch die zweite Theorie existieren. Und es ist nicht richtig, sich ausschliesslich auf eine Weise zu verhalten.
"Dann heisst das mit anderen Worten, man kann auch Menschen umbringen", schreien die Moralisten auf. "Ja, wenn es für Sie aktuell ist, dann töten Sie." Ich liebe lesen sehr und kann mich diesem Vergnügen nicht entziehen. Lesen ist aktuell genug für mich, um einen Diebstahl zu begehen. Wenn die Eier der Pusteblume Lichatschow in einer Zange zerquetscht würden, und er in der Hand eine Pistole hätte, dann nehme ich an, dass es für ihn aktuell genug wäre, seinen Quäler zu erschiessen, auch wenn es der Papst wäre.
Zur Erinnerung
1. Verkäufer können keine Gedanken lesen. Ihnen steht nicht ins Gesicht geschrieben, dass Sie gerade dabei sind, einige Bücher zu klauen. Für einen Verkäufer sind Sie einer aus einer endlosen Masse der Käufer. Er schaut Sie weder an, noch beobachtet er Sie.
2. Eine einheitliche Methodologie existiert nicht (wie man sie nimmt, wohin man sie steckt).
Improvisieren Sie. Nur: Es ist nicht sinnvoll sich zwei Stunden im Geschäft aufzuhalten und zu gehen, ohne etwas zu kaufen – das ruft Verdacht hervor und man kann verfolgt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man Dich reinholt. Auch ist es nicht sinnvoll, diese Empfehlungen alphabetisch zu befolgen. Es ist möglich, dass auch die Verkäufer sie schon gelesen haben.
3. Besser ist es, alleine zu klauen.
4. Nimm entweder das am meisten gewünschte Buch oder eins, von dem Du nicht weißt, ob es gut ist oder schlecht. Bei dem letzteren ist der Grund "ich möchte kein Geld für etwas ausgeben, was ich nicht kenne" stärker als "ich möchte unbedingt etwas riskieren, egal wofür".
5. Wenn das Buch zu gross und dick ist, heisst das noch nicht, dass man es nicht klauen kann.
6. Wenn Sie geschnappt werden, steht nicht sicher fest, was folgt. Sie müssen sich dann nach der Situation richten. Wird Ihnen Moral angetragen, dann bitten Sie darum, das Buch zurück ins Regal stellen zu dürfen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man sie rausführt und versucht, Sie zusammenzuschlagen. Zur Miliz wird man man in der Regel nicht gebracht und es wird auch keine Strafanzeige erstattet – da regiert Faulheit.