Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Kunst & Verbrechen
Buße in der Gewahrsamszelle
Julia Kissina
Carl Hegemann (Dramaturg)
...und soweit kann in meinen Augen Kunst gar nicht genug Freiheit haben, wenn die Gesetzgebung und der ganze demokratische Prozess ... funktioniert, kann man sich eine absolute Kunstfreiheit ... leisten, auch auf die Gefahr hin, dass dann die Kunst vielleicht nicht mehr so wirksam sein kann wie unter diktatorischen Verhältnissen. Sie ist aber möglicherweise auch ein Bollwerk gegen diktatorische Verhältnisse, weil eine Diktatur kann sich eben eine freie Kunst möglicherweise gar nicht leisten, während eine Demokratie das kann. Deshalb glaube ich, dass es zu viel Kunstfreiheit gar nicht geben kann, und die Künstler müssen sich eben überlegen, was sie machen, wenn sie aufgrund ihrer großen Freiheit, die sie haben, nicht mehr gehört werden. Wenn sie etwas wichtiges zu sagen haben, habe ich die Hoffnung, werden sie auch gehört. Man kann ja dann auch mal einen Leitartikel für die Zeitung schreiben, vielleicht wird das dann mehr gehört.
... das ist, glaube ich, ein genuiner Bestandteil der Kunstproduktion überhaupt. Es ist ein Element der Kunst, dass die Kunst über ihren Bereich hinaus will, und nicht nur als Kunst definiert werden will,
die wunderbare Möglichkeit, durch diese Kunstdefinition sich Sachen leisten zu können, die man sich eben im sogenannten, mit dem Realitätsindex versehenen, Leben nicht erlauben kann.
Insofern finde ich das hier jetzt natürlich auch eine ganz konsequente und folgerichtige Aktion. Wir haben symbolisch jede Menge Verbrechen begangen, für das, was ich auf der Bühne zu verantworten habe, hätte ich normalerweise, also unter Realitätsbedingungen, schon mehrfach in den Knast und in die Irrenanstalt gemusst, aber weil es ja nur symbolisch war, weil es ja das Kunstetikett hatte, brauche ich jetzt auch nur symbolisch in den Knast. Und das ist natürlich eine einmalige Chance für die Kunst, und das ist das Zweite, was dann sofort danach kommt, dadurch wird sie aber auch jeder Wirkung beraubt, weil ja dann jeder sofort beruhigt sagt: Ach, das ist ja nur Kunst, und ich habe ja gar nicht wirklich im Knast gesessen, und die haben sich ja gar nicht wirklich umgebracht, die Drohungen sind ja nur als künstlerische Drohungen gemeint, und der Woodoo-Zauber vor Möllemanns Haus ist ja nur ein künstlerischer Woodoo-Zauber, und er macht sich lächerlich, wenn er das dann als Straftat definiert. Solange wir nichts irreversibles verbrochen haben, können wir mit unserer Kunst machen, was wir wollen, und das ist eine wunderbare Freiheit, die die Gesellschaft bietet, aber der Künstler muss sich über sein Künstlertum hinaus natürlich trotzdem immer noch als Mensch in dieser Gesellschaft sehen, und er muss auch Reaktionen in dieser Gesellschaft provozieren.
Diese Gefängnisgeschichte, ich habe ja nur zwanzig Minuten hier drin gesessen, aber ich habe trotzdem gleich Kopfschmerzen gekriegt, und diese Kopfschmerzen habe ich genauso gekriegt, wie ich das als realer Mensch, und nicht nur als Künstler kriegen würde. Und an dieser Schnittstelle zwischen den Bereichen, da wird es interessant, und ich glaube, es gibt keinen ernsthaften Künstler, ... der sich nicht mit dieser Grenze auseinandersetzt. Dadurch kommen dann diese Stockhausen-Probleme zustande, bei denen man das ja exemplarisch zeigen kann, und man kann ja auch exemplarisch zeigen, dass sich Terroristen an dem berühmten 11.September genuiner künstlerischer Mittel bedient haben, und trotzdem wird keiner, außer er ist gerade in Rage, auf die Idee kommen, zu sagen, es ist ein großes Kunstwerk, weil, das Künstlerische wird neutralisiert durch die Irreversibilität der Handlung, die die Sache zu einer monströsen Straftat macht, aber man darf trotzdem dabei nicht vergessen, dass die Mittel und die Methoden genuin medienkünstlerische Methoden sind. Wenn man es fertig bringt, Millionen von Zuschauer gleichzeitig Teilnehmer eines Life-Ereignisses werden zu lassen, ist das natürlich zutiefst bewundernswert. Wenn es jetzt noch gelungen wäre, das ohne Tote und Verletzte abgehen zu lassen, dann wäre es wirklich das größte Kunstwerk aller Zeiten, wie Stockhausen gesagt hat. Wenn allerdings Leute, die daran nicht beteiligt sind, dadurch daran glauben müssen, dann muss man schon religiös werden, wie Stockhausen es zum Teil versucht hat, oder politisch, oder eben verbrecherisch, und dann muss man leider sagen, der Kunstcharakter ist nachgeordnet, dient auch nicht zur Milderung, kann man nicht als ernste Begründung heranziehen. Das hat auch keiner versucht. Außer Stockhausen vielleicht, der aber seine ganze Rede... ja in Klammern gesetzt hat, und vorher gesagt hat: Ich rede jetzt hier uneigentlich, ich rede jetzt als Künstler, ... Daran kann man auch sehen, wie hysterisch die Gesellschaft geworden ist, dass sie das dann nicht mehr auseinanderhalten kann. Und aber auch, wie gefährlich das Problem ist. So Leute wie Schlingensief - es gibt ja einige Künstler, die können extrem gut damit spielen und akzeptieren es natürlich auch letztlich, dann eben doch als Künstler wahrgenommen zu werden, d.h., alles, was sie gemacht haben, ist reversibel, was nicht heißt, dass nicht extreme Emotionen frei werden können, und vielleicht auch extreme Erkenntnisse zustande kommen können.
Julian Rosefeldt (Künstler)
Das Verbrechen, für das ich belangt werden sollte, war mein Projekt "Detonation Deutschland" 1996. Ich fühle mich dabei total unschuldig. Ursprünglich wurde das mit Humor aufgenommen, es war ein Projekt, bei dem wir rund 300 Gebäude in Deutschland zum Einsturz gebracht haben. Ehm, das wurde eigentlich damals goutiert und interessiert aufgenommen, aber dann nach dem 11. September 2001 ist das auch in unserem Land schwierig geworden mit dem Humor. Dann hat man mich also nachträglich noch belangt für die Verbrechen. Und mich vor Gericht gezerrt. Ich hab mich aber nach wie vor nicht schuldig gesehen und fühl mich auch heute nicht schuldig.
Ronald Kukulis (Schauspieler)
Ich möchte eigentlich nur Geständnisse abgeben: Ja, ich bin schuldig. Ich bin schuldig und ich finde es gut, dass ich endlich mal dafür einstehen muss und hier ins Gefängnis gekommen bin. Folgendes, als massiv die Theaterschließungen begannen und das Schillertheater geschlossen wurde, und man permanent in der Zeitung lesen konnte, dass ich als Schauspieler einen Beruf ausübe, der finanziert wird von der Gesellschaft und sich kaum gegenfinanziert, da hab ich gemerkt, dass jeden Tag, den ich in das Theater gehe und meine Arbeit ausführe, ich mich eigentlich schuldig mache, schuldig an der Gesellschaft, weil ich der Gesellschaft nur bedingt wiedergeben kann, was sie mir an finanziellen Mitteln gibt. Und da mir ständig suggeriert wird, dass die finanziellen Mittel besser aufgehoben wären in anderen Bereichen – und es sind ja immerhin 0,2% des Staatshaushaltes, die in Kultur fließen – fühl ich mich schuldig und bin froh, jetzt endlich dafür endlich gebüßt zu haben.
Vladimir Sorokin (Schriftsteller)
Trotz der sehr kurzen Zeit in der Zelle hat offenbar das genetische Gedächtnis meiner Vorfahren zu mir gesprochen. Und ich habe ein altes Sträflingslied gesungen: Auf wilden Stätten hinter dem Baikalsee, da wo man das Gold in den Bergen wäscht, schleppt der Landstreicher, sein Schicksal verfluchend, seinen Sack.
Da war ein ganzes Knäuel verschiedener Gedanken. Erstens dachte ich: Wird es je einen Moment in der Geschichte der Menschheit geben, in dem sie aufhören werden, sich gegenseitig einzusperren? Theoretisch möglich. Genauso möglich, wie die Vorstellung, dass sie aufhören, sich gegenseitig umzubringen. Zweitens: In Russland hat offenbar jede Generation eine solche Gefängniserfahrung, so dass ich mich zu Hause fühlte und mich daran erinnerte, dass die Leute überall leben können. Und schließlich dachte ich, dass es hier ein ganz anderes Zeitgefühl gibt. Die Zeit ist nichts im Vergleich zu einer inneren Ruhe. Und es entstand eine klare Vorstellung, dass es hier natürlich sehr nett ist, aber dass in diesem Moment in Russland im Gefängnis ein unbescholtener Mensch sitzt. Das ist Chodorkovskij. Und das ist keine Kunst und kein Spiel mehr. Ich habe ihm gedanklich die Freiheit gewünscht.
Christine Daum (Journalistin)
Ich war etwas überrascht, als ich hier ankam, weil ich nicht genau wusste, was passieren wird. Und zunächst habe ich auch den Polizisten für einen Mitspieler gehalten. Ich habe nicht gewusst, dass es echte Polizisten sind. Ich habe mich nicht unbedingt eingeschränkt oder belästigt gefühlt, dadurch dass ich da abgetastet worden bin. Aber ich kam mir schon ein bisschen vor wie in einem Film. Ich hatte auch ein bisschen das Gefühl, dass es sehr schnell geht, dass man in so einer anderen Wirklichkeit landet, die man normalerweise nur aus dem Kino kennt oder wenn man bei einer Demo hochgenommen worden ist oder mit einer Terroristin verwechselt wurde.
Sagen wir so: Ich arbeite als Fernsehjournalistin. Da ist es so, man ist abgefüttert. Man kann fast sagen, dass man zynisch wird. Wenn Leute dann nicht wirklich etwas außergewöhnlich Grelles machen, hat man nicht mehr das Gefühl, dass an der Kunst etwas ist, was ein Verbrechen sein könnte. Das Verbrechen liegt für mich im Moment am meisten in der Verwechslung von Fiktion und Realität in einer für meinen Geschmack ungute Weise.
Aber sonst finde ich schon, dass Anfang des letzten Jahrhunderts ja die Moderne mit diesem Anspruch angetreten ist: Künstler oder Kriminelle diese große Alternative gab es für viele. Davon merke ich heute nichts mehr. Ich glaube, dass die Kunst inzwischen so autonom ist, dass sie überhaupt nicht mehr in den Bereich des Verbrechens kommen kann. Es gibt auch genügend Institutionen, die sich mit Zensur beschäftigen, wo das global auftritt. Ich denke, Kunst als Verbrechen ist weitestgehend institutionalisiert, wo das noch auftritt, wo es zum Beispiel Zensur gibt.
Boris von Brauchitsch (Kunsthistoriker)
Ich habe mir das ganz anders vorgestellt in diesen Zellen, und ich muss sagen, dass ich gar kein Büßertyp bin. Ich glaube ich würde zum Selbstmörder oder zum Terroristen in so einer Zelle. Relativ schnell. Aber da ist man ja in guter Gesellschaft.
Ich glaube, es gibt Freiheit, es gibt Kunst und Verbrechen. Und ich glaube, die stehen in einem Dreiecksverhältnis zueinander. Alles ist dabei relativ, man muss alle drei Begriffe für sich definieren. Auch Terrorismus ist ein Begriff in diesem Zusammenhang. Viele Terroristen haben später den Friedensnobelpreis bekommen. Mandela, oder Arafat. Also ist es eine Frage der Definition, was man unter Terrorismus oder Gewalt versteht. Genauso wie das, was man unter Kunst versteht oder unter Freiheit. Die absolute Freiheit ist wahrscheinlich auch ein Verbrechen, weil es die Freiheit eines Absolutisten ist, der diese Freiheit nur auf Kosten ganz vieler anderer Menschen hat. Ich glaube, dass die Kunst nie freier sein sollte als die Menschen.
Es gibt Künstler, die sind sehr borniert und meinen, etwas besseres zu sein als andere, als Bäcker oder Metzger, und sie nehmen sich Dinge heraus.
Künstler nehmen sich oft zu wichtig. Kunst sollte nicht wichtiger sein als die Freiheit. Und damit sollte auch die Freiheit der Kunst nicht größer sein als die der Menschen.
Birgit Bauer (Schriftstellerin)
Zweieinhalb Meter. Man fängt an, die Seiten zu zählen. Ich habe angefangen, die Steine zu zählen. Acht Ziegelsteine in der Breite. Zweieindreißig in der Länge. Und im Kreis. Kein Tageslicht. Schritte. Geräusche von außen. Das Zeitgefühl geht verloren. Beklemmungen im Magen. Schriften auf den Bänken und auf den Ziegelsteinen; SS. Tauber und solche Sachen. Ich hab ja selber im Gefängnis gesessen bei einer Recherchearbeit für ein Projekt über die Legion Condor in Spanien. Und während dieser Recherche bin ich verhaftet worden von der Gardia Civil und habe mich im Gefängnis wiedergefunden. Was mich jetzt interessiert hat, war, wie ist das, wenn ich mich selber in diese Situation begebe, jetzt räumlich. Wenn ich einen Roman schreibe, begebe ich mich tagtäglich auch ganz bewusst in eine so isolierte Situation. Aber was mich interessiert hat, war, wie reagiere ich jetzt, wenn ich da reingehe und was passiert mit mir, obwohl ich weiß: Ich komm hier in zehn oder fünfzehn Minuten wieder heraus. Und das waren am Anfang eben diese Eindrücke, diese körperliche Reaktion, das Empfinden, Druck auf den Magen, Angst: Ich klingele jetzt. Ich will pullern. Ich will pullern gehen. Ich halte das nicht aus.
Carsten Probst (Autor)
Die Deutschen dürfen einfach nicht mehr aggressiv und verbrecherisch sein. In anderen Ländern, nicht nur in Russland, sondern auch in Frankreich oder in England, gibt es sehr aggressive Formen von Literatur und aggressive Literaten. Nur die Deutschen haben kein Verhältnis zur Aggression mehr, und ich glaube, dass dies einen spezifischen Ton in der zeitgenössischen Literatur in Deutschland ausmacht. Für mich selber ist das wie eine Art dauernder Grenze. Du hast eigentlich immer das Gefühl, daran denken zu müssen, was kann jemand eigentlich noch verstehen von dem, was zu schreibst oder was wird schon aufgrund dieses Automatismus, mit dem man Aggression ablehnt, eliminiert? Die Deutschen sind eine Nation, die versucht, alles mögliche zu neutralisieren und zu beruhigen.
Für mich war es ein eigentümliches Erlebnis hier zu sein. Ich war zum ersten Mal in einer Art Gefängnis, das so ummauert ist. Früher habe ich mir vorgestellt, dass es zum Schreiben eigentlich ein Gefängnis braucht, und so ich habe mir die Situation immer sehr schön vorgestellt, in einer Zelle zu sitzen und nichts anderes zu haben als die Zellenwände und, wenn man es mir erlaubte, ein paar Notizbücher. Das wäre sozusagen der ideale Zustand, und ich habe mich deswegen auf diese Aktion gefreut. Ich habe mich sehr wohl gefühlt in den ersten zehn Minuten, in denen ich in dieser Zelle war, und ich dachte: Prima! Dann habe ich fünf Minuten lang plötzlich gedacht: Was ist, wenn man mich hier vergisst? Und hab dann festgestellt, dass die Tür keine Klinke hat und das war dann eigentlich ein sehr ambivalentes Gefühl.
Petra Castell (Journalistin)
"Mir kommt es schon manchmal so vor, dass es einen Preis gibt, den wir zahlen für Wohlstand, für Freiheit und Demokratie, und das ist ein Mangel an künstlerischer Qualität, ein Mittelmaß. Eine ganz große Mittelmäßigkeit, die es in allen Bereichen gibt, in der Kunst, in der Literatur, im Theater und Kino, und ich frage mich oft, ob das wirklich damit zusammen hängt, dass es uns zu gut geht. Dass man wirklich auch die Not in der Ernährung, aber auch die Beschränkung braucht, um zu einem kreativen Prozess zu kommen, weil man ja die Notwendigkeit spürt, das auch existenziell überwinden zu müssen. Ich finde das manchmal aber auch einen sehr obszönen Gedanken, weil das ja im Umkehrschluss hieße, dass Kunst nur in der Diktatur geben kann. Also Heiner Müller hat ja nun ein Diktum konstatiert, dass es für einen Künstler viel interessanter ist in der Diktatur zu leben. Aber ich finde das eigentlich obszön. Ich würde dann im Zweifelsfall lieber verzichten auf gute Kunst als auf Freiheit und demokratische Verhältnisse und Wohlstand. Ich glaube aber auch, dass es nicht wirklich stimmt. Ich denke, dass es schon innerhalb einer so offenen Gesellschaft, wie wir sie haben, genug Widersprüche gibt, aus denen man künstlerisch schöpfen kann.
Paula Böttcher (Galeristin)
"Also es passierten zwei Dinge. Das Erste war, dass ich angefangen habe zu lesen, was die Menschen da eingeritzt haben an Botschaften und was da für Spuren sind an Verzweiflung und Fragen. Es gab zum Beispiel den Satz: "Gott, warum hast du mich verlassen? Oder vergessen". Außer das zu lesen, habe ich auch mit meinem Ohrring etwas in die Wand geritzt, und zwar aus diesem Lied "Die Gedanken sind frei" die letzte Strophe. Ich glaube, dass jeder, der in diesen Kunstbetrieb involviert ist, irgendwas zu büßen hat. Und in diesem Sinne habe ich mir selbst auch einen Strafbefehl ausgestellt. Weil ich für die ganzen letzten sieben, acht Jahre, die ich im Kunstbetrieb tätig war, büßen möchte. Andererseits stellt sich dir Frage: Wird man wirklich herausgelöst, weil letztendlich – was ich auch mit "Die Gedanken sind frei" sagen wollte – man arbeitet weiter. Wenn man die Kunst als solche betrachtet, geht es darum, Gedanken weiter zu tragen. Es ist daher keine Unterbrechung, sondern eher ein Innehalten, eine Möglichkeit zur Kontemplation.
Ingolf Hoppmann (Autor, Übersetzer)
Man hat unglaublich viele Gelegenheiten, sich unfrei zu fühlen, bei jedem kleinen Problem, jeder lästigen kleinen Unbequemlichkeit fühlt man sich unfrei, und man leidet hingebungsvoll daran. Und man empfindet in seinem Inneren einen wollüstigen Impuls, den sogenannten Freiheitsdrang. Die meisten von uns sind sicher mehrmals täglich romantische Helden im Kampf um Freiheit, um Freiheit schlechthin, natürlich. Ich selber auch. Wie oft läuft man durch den nächstgelegenen Park, durch eine Allee, schnuppert zum Beispiel, um diese Jahreszeit, den herbstlich würzigen Duft von Laub, blinzelt in die unerlaubt wohlmeinende Sonne und seufzt: frei müsste man sein!
Aber hier in dieser stinknormalen Zelle, innerhalb von wenigen Minuten sogar, die ich hier gesessen habe, fiel es mir eiskalt wieder ein: Die Unfreiheit ist etwas ganz banales, etwas erdrückend banales.
Die Freiheit, über die wir die meiste Zeit zu reden und nachzusinnen belieben, ist nichts als eine romantische Idee, ein Traum.
Freiheit, also die Freiheit, die wir meinen, ist natürlich ein paradoxer Begriff, ein Begriff, den man allenfalls emphatisch begreift, oder besser, mit dem man spielt, um zu erbeben, ein gedankliches Stimulans wer sagt "ich bin frei" wird in dem Moment zum Lügner, wo er sich selber glaubt der Künstler, denke ich, ist ehrlich. Auch er genießt den romantischen Rausch des Gefühls von Freiheit, aber er weiß, dass er etwas genießt, das er gar nicht hat. Er weiß es, weil er, im Unterschied zu anderen, sehr weit gehen muss, um dieses Gefühl zu erreichen, er muss, mit seiner Kunst, bis an die Kante des Abgrundes gehen, er muss auf dem Grat wandern, auf dem Seil; und einen Schritt weiter ist das Nichts, und die Empfindung, für Augenblicke, für einen Augenblick, dieses Nichts zu besitzen, ist das Gefühl von Freiheit. Das ist großartig, und man wird süchtig danach. Aber es ist ein Zustand der Unwirklichkeit. Und die Entfernung von hier bis zur banalen Wirklichkeit einer Zelle schein unendlich.
Kamera, Schnitt: Anatolij Skatschkov
Produktion: Diskursive Poliklinik in Zusammenarbeit mit Hebbel am Ufer und Bundeszentrale für Politische Bildung, Dr. Stefanie Wenner, [kino:bri:ga:da], Institut für Neue Barockforschung, Sonja Galler