Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Kunst & Medien
Interview mit D. A. Prigov über Virtualität, Computer und eine Installation
Dmitrij Aleksandrovic Prigov
Artemij Lebedev: Ich grüße Sie.
Dmitrij Aleksandrovic Prigov: Hallo
AL: Wie geht es Ihnen?
DAP: Geht so.
AL: Dmitrij Aleksandrovic, was wissen Sie über das Netz? Über dessen Idee.
DAP: Ich habe keinen Computer, deshalb kenne ich das Netz nur abstrakt. Es (das Netz) befindet sich an der Grenze zum Übergang in eine neue Qualität, weil es bis heute die Fortsetzung von anthropologischen Eigenschaften darstellte; nun sagen wir vom Gedächtnis, von der Hand; wenn die Atombombe - die Verlängerung der Faust ist, dann ist das Internet die Fortsetzung des Gedächtnisses, des Blickes usw. Wenn der Mensch in eine neue Qualität hinüberwechselt, dann beginnt er nicht mithilfe eines Textes zu überlegen, der sich ausbreitet, sondern allein durch die Operation. Wenn der Text nicht die Einheit seiner Tätigkeit ist, dann wird er die Operationen neu einordnen.
AL: Welche Operationen?
DAP: Einschluß, Ausschluß, Verschiebung des einen Textes in einen anderen, wenn der Mensch einen Metatext bauen wird aus Operationen. Und die Texte, die ihm einverleibt werden, die werden nicht bestimmbar sein. So jedenfalls denke ich darüber. Bislang ist die Aufgabe des Internets trotz allem, an seine generelle Aufgabe zu erinnern, wie bei einer Bibliothek, die wesentlich schneller ist, oder wie beim Telefon, das noch schneller ist. Wenn das Internet in seine eigene Qualität hinüberwechselt, die man mit keiner anderen vergleichen kann....
AL: D.H. Sie wollen sagen, daß das Internet Konturen bekommt, die in unserer realen Welt keine analogen Entsprechungen finden. Wird das den Menschen nützlich sein können?
DAP: Ich weiß nicht, ob das jemandem nützen wird. Jede Umgestaltung der Kultur geht zu Beginn von einer Nützlichkeit aus und dann wird alles anders. Ich glaube nicht, daß, ehrlich gesagt, die Erfindung des Buches beabsichtigte als neue mündliche Form der Poesie zu existieren, sie hatte vor, das mündliche Schaffen bequemer zu memorieren. Aber sie brachte die mündliche Tradition um, und selbst die Form des Schreibens wurde eine andere zur Erzeugung von Texten. Wenn der Mensch schreibt, verhält er sich völlig anders zum Text und zum Schaffen überhaupt als ein Mensch, der mündlich all diese Lieder reproduziert. Dort hatten wir einen Reproduzenten von sich wiederholenden Situationen. Aber der schriftliche Mensch verhält sich anders zum Leser, er ist von ihm getrennt, das ist ein ganz anderer Typus der kulturellen Existenz.
AL: Sie wollen sagen, daß sich das auf das Schaffen selbst auswirkt?
DAP: Auf die anthropologischen Eigenschaften/Grenzen der Kultur. Künstlerisches Schaffen ist ein Teil der Kultur.
AL: Früher gab es Erzähler, dann Schreiber und was kommt jetzt....
DAP: ....irgendwelche Manipulierer.
AL: Und werden Sie selbst irgendwann hinter dem.....
DAP: Ich sitze am Computer nur wie an einer Schreibmaschine mit einem Schreibprogramm.
AL: Haben Sie denn einen Computer.
DAP: Nein, ganz und gar nicht. Sehen Sie, bislang sehe ich prinzipiell keinen ideologischen Wechsel. Bislang ist der Computer lediglich eine Fortsetzung der Schreibmaschine für mich.
AL: Das Netz aber ist ewig.
DAP: Nun gut, ewig. Aber zur selben Zeit ist der Reiz einer Schreibmaschine als polygraphische und ....
AL: Auch mit einem Computer kann man drucken.
DAP: Kann man. Aber ich drucke solch kleine Heftchen, die der Computer nicht hervorbringen kann. Das ist ein bestimmtes Design. Man müßte den Computer dazu bringen, ein solches Design zu produzieren. Zur Zeit habe ich kein Verlangen danach.
AL: Und was halten Sie von der Idee, daß, wenn man ihre Gedichte ins Netz bringt, jeder beliebige Mensch von wo auch immer sie lesen kann?
DAP: Dazu kann man sagen, was man grundsätzlich zu einer virtuellen Möglichkeit sagen kann, es ist zweifelhaft, ob das sinnvoll ist und ob es zu realisieren ist.
AL: Dafür werden diese Gedichte nie verwesen oder vergilben, sie werden dort ewig bleiben.
DAP: Nun, wozu. Sagen wir, bei Ihnen liegen alle Gedichte irgendeiner Sappho. Wem auf dieser Welt nützt diese Ewigkeit... Wir brauchen den Mythos Sappho, der von Tausenden Menschen nacherzählt wird, und die Gedichte sind in unserer Zeit konkret..... Nun, derjenige, der sie kennt, wird sie nicht unbedingt im Computer lesen. Mir erscheint eher die Idee von einer ewigen Existenz weitaus wichtiger, als das reale Faktum der Existenz, und das Ideologem Computer interessanter und wichtiger, als der Computer selbst. Ich kann schneller über ihn abstrakt sprechen, als ihn beherrschen.
AL: Er ist trotz allem für Sie interessanter als ein Phänomen im Bewußtsein?
DAP: Die Virtualität seiner virtuellen Existenz. Insgesamt ist die postmoderne Kunst, insbesondere die bildende, die sich in der heutigen Zeit von einer Arbeiten mit Texten kaum unterscheidet, aber die Fähigkeit des Transponierens: aus dem visuellen Text in einen verbalen, von einem verbalen in eine Performance, das bezeichnet einen speziellen Typus von Verhalten, einen manipulativen, und dem Text sind bereits die abhängigen Bedeutungen eingeschrieben. In dieser Hinsicht erahnte der postmoderne Künstler die Ideologie des Computerverhaltens, solange der Computer mit seinen praktischen Funktionen sich nicht emporschwingt bis hin zur Ideologie des künstlerischen Verhaltens. Bis jetzt kam der ideologische Künstler dem Computer-Verhalten zuvor, weil das Verhalten des Computers ganz gleich wie immer ein Ziel im Auge hat, einen Text zum Beispiel: Die Verkürzung des Abstandes und der Zeit. Aber um vollständig zur Manipuliertheit überzugehen, muß sich der Typ des Manipulators herausbilden... Der Künstler bringt nun den Typ des Künstlers hervor, der unabhängig vom Text ist. Aber er selbst ist schon die Quintessenz der Manipulation, ein Ideologem der Manipulation. Und vorläufig, auf dem Weg zur Computerisierung, realisiert der Künstler dieses Ideologem nicht. Er tut nur so als würde er ihn technisch nutzen. Er nähert sich ihm an: er baut aus Texten einen Text, macht parallele, simultane, Texte mit unterschiedlichen Wegen. Aber das ist alles, im allgemeinen, die Reproduktion eines normalen virtuellen Gehirns, mehr nicht. Wie wenn das Flugzeug die Beine beschleunigt.
AL: Und sie wollen den Computer nicht für ihr künstlerisches Schaffen verwenden?
DAP: Nun, derzeit bringt er mir keinen Zugewinn, mit meinen Händen kann ich mehr machen als mit dem Computer.
AL: Mit dem Computer kann man dasselbe plus Hände....
DAP: Nun wozu? Ich produziere keine Texte, sondern ein künstlerisches Werk.
AL: Nun gut ein künstlerisches Werk. Dort könnte er, sagen wir, mit Leben erfüllt werden.
DAP: Das wäre eine der Varianten meines künstlerischen Anliegens.
AL: Das interessiert Sie also?
DAP: Obwohl es kaum einen Zugewinn bringt. Ich habe Computer-Installationen gemacht, Computer-Projekte, keine ideologischen. Zum Beispiel hatte ich ein Projekt, das "Orpheus und Eurydike" hieß. Ich erstellte eine Samizdat Ausgabe von Evgenij Onegin auf der Schreibmaschine. Danach habe ich das ganze "lermontovisiert"; ich habe alle Adjektive durch unsinnige Übersinnliche ersetzt. D.h. es war klar, daß die Tradition Lermontovs in der russischen Literatur siegte, obwohl alle auf Puschkin schwören.
AL: Könnten Sie ein Zitat nennen?
DAP: Verrückter Onkel, verrückter Regeln, als er verrückt erkrankte usw. In dieser Beziehung schrumpft der informative Teil grausam zusammen, aber er bestätigt dafür dieses mantrische Wesen der Poesie, das metrisch und rhythmisch ist. Das herrscht immer vor. Das heißt ich machte diese beiden Dinge. Danach scannte ich ein drittes Exemplar blind ein und deshalb produzierte der Computer irgendeinen ungeheuren Text, irgendwelche Satzzeichen, Wortbausteine, Indexe etc. Ich zerteilte den Text in fünf Teile und gab ihn einigen Slavisten, Literaturwissenschaftlern mit der Bitte, den Text wiederherzustellen, ohne auf die Quelle zu achten, nur aus dem Gedächtnis. Danach war ein Symposium für elektronische und Computer -Kunst in Helsinki. Dort machte ich eine computergestützte Übersetzung ins Englische, vom Englischen ins Deutsche, vom Deutschen dann wieder ins Russische. Danach teilte ich den Text auf und bat erneut darum, ihn zu rekonstruieren. Schließlich ergab sich, daß der Computer-Raum, in den alle Mythologeme des himmlischen Raumes oder der Hölle projiziert wurden, irgendeinen anthropomorphen Text vom Typ "Evgenij Onegin" ergaben, der ebenso wie Eurydike in einen sich völlig hinter der Grenze befindlichen Raum entschwindet. Und selbst die Philologen, so schien es, wendeten diesen Text aus diesem Raum zurück ins menschliche Leben, gaben ihm seine anthropologischen Merkmale zurück. Wichtig ist nicht der Text, sondern Orpheus' Macht, die Beziehung zu diesem Raum. Deshalb interessiert mich die Ideologie dieses Raumes mehr als die Ideologie der Beziehung zu diesem Raum.
Danach hatte ich noch ein anderes Projekt, das ich "Der Computer - der russischen Familie" nannte. Das waren Computer auf kleinen Podesten mit Vorhängen. Alle wurden wahrgenommen als eine ironische Rückkehr des Computers zum Objekt. In der Tat gibt es eine bekannte alte heidnische Tradition - Dinge, die dich behüten vor der unerschlossenen Welt - Glasperlen, ornamentale Holzschnitzereien. Und als ich die Vorhänge oder Gardinen aufhängte, geschah das nach demselben Prinzip des Heranführens an eine Alltagskultur, um den Betrachter vor dem Raum, der nicht sichtbar ist, zu behüten. Deshalb interessiert mich natürlich dieses Mythologem - Computer.
AL: Aber der Computer als solches bis jetzt nicht?
DAP: Nun ich glaube, daß ich, wenn ich einen Computer habe, ihn ziemlich schnell manipulativ beherrschen kann.
Ich glaube in zwei Jahren wird die Ideologie dieser Arbeit, die mir interessant scheint, ihre endgültige Form annehmen, und ich werde mit dem Computer nicht wie mit einem manipulativen System umgehen, sondern mit einer gewissen Ideologie des Computers. Darüber kann man jederzeit mit Leuten sprechen, sogar mit solchen, die keinen Computer haben...
AL: Danke
(dt. von Sylvia Sasse)
 
Das Interview erschien anläßlich eines russischen Onlinewettbewerbs, an dem Prigov selbst auch teilnahm.
 
Dmitrij Aleksandrovic Prigov
geboren 1940
Ausbildung: Künstlerische, Bildhauer
Schaffen: Poesie, Zeichnungen, Ausstellungen, Performances, Installationen
Russische Originalversion (http://www.tema.ru/rrr/litcafe/prigov/index.html) KO1-Fonds