In Italo Svevos Corto viaggio sentimentale heißt es, nachdem Herr
Aghios sich am Bahnhof in Mailand von seiner Gemahlin verabschiedet hatte:
"Um sie so lange als möglich zu sehen, beugte er sich aus dem Fenster. Sah er
recht? Seine Frau führte mit einer übertriebenen Geste ihre Hand ans Herz. Es war doch
nicht möglich, daß sie, ein so ausgeglichener Mensch, vor fremden Leuten ihren
Abschiedsschmerz in derart übertriebener Weise zur Schau stellte? Und doch schien es, als
stoße sie, während sie diese große Geste vollführte, auch noch Schreie aus.
Dann aber, als er sie nicht mehr sah, begriff er. Mit dieser Geste hatte sie ihm
noch ein letztes Mal nahelegen wollen, auf das Geld zu achten, das er in seiner
Brusttasche verwahrte."
Das Beispiel mag (ganz unabhängig von seiner Bedeutung in der Erzählung) zeigen,
daß ein und derselbe Gestus im Sinne ganz unterschiedlicher Mitteilungsarten und
-absichten aufgefaßt und interpretiert werden kann. Dem unmittelbaren, von ihm selbst
diffus emotional erfahrenen Abschiedskontext entsprechend, glaubt Herr Aghios sich
zunächst mit einer expressiven Mitteilung konfrontiert, mit der Äußerung von
Abschiedsschmerz. Dies entspräche zwar der Situation, nicht jedoch des Herrn Aghios Bild
vom Charakter der ausführenden Person. Das heißt, die Gattin müßte entweder von so
übermäßig starken Gemütsbewegungen beherrscht sein, daß sie weit stärker reagiert
als gewöhnlich, oder sie böte bewußt einen theatralischen Akt des Abschiedsschmerzes,
vielleicht sogar mit ironischem Unterton, was allerdings ebenfalls nicht in Herrn Aghios
Bild von seiner Gattin paßte.
Erst als Herr Aghios den Gestus nicht mehr vor Augen hat und von der emotionalen
Situation des Abschieds entfernt ist, gelingt es ihm, den Gestus auf einer ganz anderen
Mitteilungsebene zu interpretieren. Jetzt versteht er ihn im Sinne konventionaler
Kommunikation - als Gestus des Hinweisens, in diesem Fall verknüpft mit einer Mahnung:
Paß auf dein Geld im Brustbeutel auf!
Diese Lösung entspricht sowohl dem Charakter der ausübenden Person als auch der
erweiterten Situation. Sie knüpft an das vorausgegangene Gespräch am Bahnsteig
unmittelbar vor dem eigentlichen Abschied an. Der zeitliche Abstand des vermeintlichen
Verstehens der gestischen Mitteilung ist vom ausgeübten Gestus nach hinten etwa so weit
entfernt, wie nach vorne die mündlichen Ermahnungen der Gattin.
Die Möglichkeiten der Narration im Bild lassen solche zeitlichen Dimensionen kaum
zu. Sie wären allenfalls annähernd durch kontinuierende Darstellung erreichbar. Und
selbst dann wäre es kaum möglich, das Bild vom Charakter einer bestimmten Figur so
differenziert aufzubauen oder gar zu reflektieren. Gerade dort, wo ein einziger
Darstellungsmoment die geschilderte Handlung verständlich vorstellen soll, ist es deshalb
von zentraler Bedeutung, daß die intendierte Art der Mitteilung möglichst eindeutig
erfaßbar ist. Deshalb forderten Leon Battista Alberti und Leonardo da Vinci in ihren
Schriften über die Malerei, Gestik und Mimik in der gemalten historia so
einzusetzen, daß die beabsichtigten Gedanken oder Affekte der dargestellten Figuren
möglichst eindeutig präsentiert sind, um so das Bild in die Lage zu versetzen, für sich
selbst zu sprechen. Leonardos Behauptung, die "Bilder werden, wenn die Geberden und
Stellungen (der Figuren) gut zu den Gemütszuständen (die sie ausdrücken sollen) passen,
verstanden werden, als ob sie sprächen", weist zugleich auf den wesentlichen
Unterschied zwischen der Gestik der Realität und der Gestik des Bildes hin. Während sie
dort eine überwiegend sprachbegleitende Funktion hat, kommt ihr hier eine stärker
sprachersetzende Funktion zu.
Man würde die beabsichtigte Aussage von Raffaels Messe von Bolsena in der Stanza
Eliodoro (Abb. 1) kaum verstehen, wenn man die angewandten Mitteilungsarten nicht
zutreffend bestimmen könnte und die Gesten des Volkes auf der linken Seite etwa im Sinne
auf Vereinbarung beruhender Handlungen oder Zeichen als Teil des liturgischen Zeremoniells
auffaßte. Gerade dadurch daß die Volksgruppe links die Gewohnheiten durchbricht und in
expressiver Gestik im Sinne spontaner Affektäußerung vorgestellt ist, wird auf den
eigentlichen Bildinhalt hingewiesen. Wie sonst wäre zu erkennen, daß sich auf dem Altar
gerade ein Wunder ereignet?
Bisher wurden bei Bildinterpretationen dargestellte Gesten zumeist entweder als
Abbildung von Naturbeobachtung oder als Darstellung literarischer Vorgaben angesehen und
interpretiert. Zur Klassifizierung in der bildenden Kunst angewandten Gestik folgte man
zumeist anderen Disziplinen, besonders der Psychologie oder der Semiotik. Die einfachste
und häufigste Unterscheidung, wie etwa Moshe Barasch sie vertritt, ist hier die in
zeichenhafte und ausdruckhafte Gesten. Diese Unterscheidung basiert allerdings auf der
Anwendung von Gestik in der Realität.
In der bildenden Kunst ist jeder dargestellte Gestus zunächst ein zeichenhafter,
indem er eine bestimmte Aussageabsicht des Bildes trägt. Ganz gleich ob ein Gestus
unbändigen Zorn ausdrücken soll, oder ob er jemand zur Aufmerksamkeit auffordert, im
Bild kommt jedem Gestus eine bestimmte Bedeutung hinsichtlich der Bildintention zu.
Zu unterscheiden ist allerdings, welche Art von Mitteilung in der Anwendung von
Gestik erkannt werden soll. Doch reicht eine Unterscheidung in zeichenhafte und
ausdruckhafte Mitteilungsabsicht beiweitem nicht aus, um die wichtigsten für die bildende
Kunst relevanten Mitteilungsarten zu erfassen - vor allem diejenigen nicht, die aufgrund
der spezifischen Wirkungsweise der bildenden Kunst hier gegenüber der Gestik in der
Realität eine ganz besondere Rolle spielen.
In einer größer angelegten Studie soll - unter anderem - ein besonderer Fall der
Anwendung von Gestik in der bildenden Kunst untersucht werden: Bilder, bei denen zentrale
Figuren mit einer pronocierten Gestik erscheinen, die sich augenscheinlich nicht in der
Funktion erschöpft, eine plausible Handlung im Sinne einer historia vorzustellen.
Als Untersuchungsbeispiel bietet sich Raffaels Schule von Athen an (Abb. 2),
nicht nur wegen der Vielfältigkeit des Einsatzes von Gestik. Das Bild wurde bereits von
Vasari als vorbildhafte "storia" im Sinne Albertis angesehen, und galt in der
Kunsttheorie, etwa bei Bellori oder de Piles als herausragendes Exemplum vor allem für
die inventio des Malers. Zugleich jedoch weicht das Gemälde in entscheidender
Hinsicht von den Forderungen Albertis ab, indem es den Betrachter zwar zur Lektüre
provoziert, jedoch zugleich jede eindeutige Lesbarkeit verweigert und damit letztlich auf
die spezifische Wirkungsweise der Malerei zurückverweist.
Die Irritationen beginnen schon bei der Identifizierung der dargestellten Personen:
Von den 58 dargestellten Figuren sind gerade sieben mit größerer Sicherheit zu benennen.
An der Provokation zur Bildlektüre bei gleichzeitiger Verweigerung der Lesbarkeit
hat jedoch besonders die Anwendung von Gestik ihren Anteil, da sie das wesentliche
künstlerische Mittel ist, um das eigentliche Sujet, den philosophischen Disput, zu
vergegenwärtigen. Letztlich gibt sie jedoch keinen Schlüssel an die Hand, um die
Handlung des Bildes präzise zu benennen oder zu beschreiben.
Dem Betrachter ergeht es letztlich wie in Platons Protagoras dem Beobachter
der Philosophen-Versammlung im Hause des Kallias. Dort heißt es: "Worüber sie aber
sprachen, konnte ich von draußen nicht verstehen".
Die Gesten der Platon und Aristoteles umgebenden Kollegen und Schüler (Abb. 3)
lassen sich mit Hilfe von Quellentexten und der ikonographischen Tradition ohne weiteres
als zeichenhafte Gesten im Sinne konventionaler Kommunikation interpretieren. Sie zeigen
unterschiedliche Arten von Gruß- oder Reverenzerweisen. Für das Bildverständnis ist es
m. E. jedoch wichtiger, daß das Pathos ihrer Ausübung und die Kombination der Gesten an
jene erinnert, die in Peruginos Schlüsselübergabe an Petrus in der Sixtinischen
Kapelle die 12 Apostel zeigen (Abb. 4). Die Zwölfzahl der Umherstehenden in Raffaels Bild
ist dementsprechend wohl kaum zufällig gewählt. Bei einem Betrachter des 16.
Jahrhunderts mag so der Eindruck entstanden sein, daß das Bild mehr als eine alltägliche
Begrüßungssituation schildert.
Platon und Aristoteles (Abb. 5) fügen sich auf den ersten Blick gut in das
Handlungsgefüge ein. Was aber bedeuten ihre Gesten?
Platon zeigt mit gestrecktem Zeigefinger nach oben, wobei die Handfläche zum
eigenen Körper gewandt ist. Man kann seinen Gestus als einfachen Zeigegestus auffassen.
Worauf aber zeigt er?
Bellori etwa hat unter Hinweis auf den Timaios den Gestus Platons als
Verweis auf den Kosmos und den letzten Grund interpretiert. Der Kosmos allerdings, können
Philosophen einwenden, ist nicht oben sondern überall. Aber auch an einen Hinweis auf
verschiedene andere Konzepte der Philosophie Platons, wie etwa das der Ideen, kann man in
diesem Zusammenhang denken.
Glenn W. Most konnte die Bedeutung als Zeigegestus unter Hinweis auf eine
Textstelle konkretisieren. Die in der lateinischen Übersetzung Pico della Mirandolas
erstmals 1507 publizierte Pseudo-Justin-Rede an die Griechen benennt die
Gegensätze in den Lehren von Platon und Aristoteles: Die allererste Diskrepanz bestehe
darin, daß laut Platon der eine Gott sich ganz oben in einer feurigen Substanz befinde,
während Aristoteles die Ansicht vertrete, Gott sei ein fünfter, ätherischer Körper.
Demnach wäre auch der Gestus des Aristoteles ein Hinweisgestus, dem allerdings mit der
Fünfzahl der Finger auch eine symbolische Funktion zukäme.
Setzt man für die Bildlektüre die - wie auch immer vermittelte - Kenntnis der von
Quintilian beschriebenen Gesten voraus, die seit der Erstedition des Textes 1470 leicht
greifbar waren, so ließe sich vermuten, Raffael habe einzelne Figuren aus der Schule
von Athen mit rhetorischen Gesten dargestellt, wie sie für die Antike bezeugt sind.
Der Gestus des Aristoteles deutet nach Quintilian auf eine über längere Zeit
gleichmäßig ablaufende Rede hin. Der Zeigegestus mit zur Schulter gerichteter
Handinnenfläche und ganz leichter Beugung des Zeigefingers, wie Platon ihn zeigt, steht
laut Quintilian für die Bekräftigung eines Arguments. Raffael hätte so dem Auftritt der
beiden Philosophen die ihrem Kontext angemessene, auf antiquarische Kenntnisse gestützte
Form verliehen.
Merkwürdig bei dieser Deutung ist, daß die beiden Philosophen einerseits einander
ins Wort fallen müßten, andererseits beide nicht gerade eindeutig im Akt des Sprechens
erscheinen. Ohnehin sind die beiden Figuren deutlich über einen bloß narrativen
Zusammenhang hinausgehoben, nicht nur durch des Pathos der sie Umgebenden. Beide sind als
einzige mit ihrer damals jeweils bekanntesten Schrift präsentiert: Platon mit dem Timaios,
Aristoteles mit der Nikomachischen Ethik. Dies verleiht ihnen ein gewisses
programmatisches Auftreten. Dies kann in Verbindung mit der Einteilung in Philosophia
"NATURALIS" und Philosophia "MORALIS" gesehen werden, wie sie an der
Decke der Stanza della Segnatura getroffen wird (Abb. 6; bereits Bellori wies auf
diesen Zusammenhang hin).
Zudem erwecken die beiden Figuren in gewissem Maße einen statuarischen Eindruck,
der möglicherweise an das ikonographische Assioziationsvermögen des Betrachters
appelieren soll. Tatsächlich läßt sich der Gestus Platons als Bestandteil eines
bestimmten ikonographischen Typus deuten, den des auf Gott verweisenden Engels, Propheten
oder Predigers.
Geradezu persönliches Kennzeichen ist der Gestus in Darstellungen Johannes des
Täufers, hier gezeigt an der Figur von Giovanni Francesco Rustici vom Nordportal des
Florentiner Baptisteriums (Abb. 7). Der Zeigegestus lag hier deshalb nahe, weil es die
heilsgeschichtliche Aufgabe dieses letzten alttestamentlichen Propheten war, auf das
Kommen Christi hinzuweisen.
In ähnlicher Bedeutung läßt sich der selbe Gestus vielfach auch in anderen, auch
heidnischen oder profanen Zusammenhängen belegen.
Eine um 1300 entstandene Illustration zu einer Handschrift von Brunetto Latinis Tesoretto
zeigt die personifizierte Natur mit dem entsprechenden Gestus (Abb. 8). Laut Text weist
sie den Herrn Brunetto darauf hin, daß der Mensch als edelstes Geschöpf Erkenntnis,
Vernunft und Wissen besitze und im Gegensatz zu den Tieren den Blick nach oben gerichtet
habe.
In einem Holzschnitt der Hypnerotomachia Poliphili (1499) verweist die von
sechs jungen Frauen begleitete matrona auf den Olymp (Abb. 9). Die Beschreibung im
Text - "cum il dextro brachio nudo" - legt nahe, daß auch die Nacktheit des
Unterarms als Bestandteil dieses Gestus aufgefaßt werden konnte oder ihm zusätzliche
Bedeutung verleiht.
Und auch in moralischem Zusammenhang kommt der Verweis auf den Himmel zum Tragen
(Abb. 10): In einer Miniatur aus dem Umkreis Cristoforo de' Predis in einer
Donatus-Handschrift sieht man Virtù mit dem in die Höhe weisenden Gestus, während Vizio
den entgegengesetzten Gestus ausübt.
Diesen Konnotationen zufolge wäre die Gestalt Platons in der Stanza della
Segnatura als eine Art heidnischer Prophet zu verstehen, der aufgrund seines
Erkenntnisvermögens auf den Himmel als Sitz der Götter verweist.
Am engsten jedoch ist die ikonographische Verbindung zum Typus des predigenden
Apostels Paulus. Denn hier weist auch die Physiognomie engste Übereinstimmungen auf (Abb.
11). Wie deutlich diese Konnotation im 16. Jahrhundert gewesen sein muß, belegt, daß das
Bild im Stich von Giorgio Ghisi offensichtlich problemlos unter dem Titel der Predigt
des Paulus in Athen verbreitet werden konnte (Abb. 12). Dementsprechend mag es bereits
in der Intention des Gemäldes liegen, den heidnischen Philosophen Platon mit dem
predigenden Apostelfürsten zu vergleichen, der übrigens in der gegenüberliegenden Disputà
del Sacramento mit ähnlichem Gestus zu sehen ist. Der so formulierte Bildgedanke
entspräche der generellen Programmatik der Stanza della Segnatura, in der die
antiken Philosophen in quasi-typologischer Weise den christlichen Theologen der Disputà
gegenübergestellt sind. Zugleich bietet gerade die Apostelpredigt vor dem Areopag ein
theologisches Argument dafür, die heidnische Götterlehre mit dem Christentum zu
verknüpfen. Schon Roger de Piles erwähnte, man habe das Bild häufig als die Rede über
jenen Altar angesehen, der dem unbekannten Gott geweiht war. Dazu hatte Paulus gesagt:
"Was ihr da verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch" (Act 17, 23).
Es läßt sich allerdings für den Gestus des Aristoteles kein so eindeutiger
ikonographischer Bezug zu einem bestimmten Prediger- oder Aposteltypus aufzeigen, auch
wenn er physiognomisch Darstellungen Petri durchaus nahekommt.
Es lohnt sich daher, eine weitere Mitteilungsart in Betracht zu ziehen - die
symbolhafte Gestik. Gelegentlich hat man in der Raffael-Literatur versucht, die beiden
zentralen Gesten der Schule von Athen im Sinne von Attributen zu interpretieren, um
so Platon und Aristoteles zu Repräsentanten unterschiedlicher Aspekte der Philosophie zu
erklären: Unter der vagen Berufung auf Bonaventura wurde Platon so zum Repräsentanten
der Weisheit (Sapientia), Aristoteles zum Vertreter der Wissenschaft (Scientia). Für
diese Deutung lassen sich jedoch weder ikonographisch noch auf Grundlage von Textquellen
stichhaltige Belege finden.
Der Gestus Platons war in der Renaissance vielmehr geläufiges Attribut der Veritas,
der Wahrheit, wie hier am Beispiel von Mantegnas Zeichnung mit der Verleumdung des
Apelles belegt werden soll (Abb. 13).
Die symbolische Deutung gewinnt zusätzlich an Plausibilität, wenn man sie in
Verbindung zur Konnotation hinsichtlich der Paulus-Ikonographie sieht: Außer dem
Evangelisten Johannes führt keine Gestalt des neuen Testaments so häufig den Begriff der
Wahrheit im Mund wie der Apostelfürst. Wenn dieser von der Liebe zur Wahrheit spricht,
die dem Begriff Philosophia entspricht, so klingt unter den Prämissen seiner Theologie
immer die Liebe zum Evangelium mit.
Ob dieser Deutung allerdings größeres Gewicht beizumessen ist, hängt nicht
zuletzt davon ab, wie sie mit dem Gestus des Aristoteles korrespondiert und ob sich aus
der Verbindung beider ein sinnvolles, die Bildintention tragendes Konzept ergibt.
Der Gestus des Aristoteles wurde vielfach, besonders in der Hieroglyphenlehre der
Renaissance, als Ausdruck oder Symbol der Potestas oder Auctoritas
verstanden.
Dabei berief man sich gelegentlich auf den entsprechenden Gestus des antiken
Reiterstandbilds Marc Aurels (Abb. 14). Bereits im Mittelalter hat unter den verschiedenen
Beschreibungen des Standbilds die Deutung des Gestus der Rechten als Herrschergestus
Vorrang. Da man bis ins 18. Jahrhundert hinein die Bedeutungen von Gesten weitgehend nach
Körperteilen getrennt betrachtete, in der Regel angefangen beim Kopf bis hin zu den
Füßen, ist die entsprechende Bedeutung für die Figur des Aristoteles nicht
auszuschließen, auch wenn diese in ganz anderem Kontext erscheint.
Der Begriff der Auctoritas spielt nicht allein für die Definition des
Papstamtes spätestens seit Tertullian eine entscheidende Rolle. Das Begriffspaar auctoritas
veritasque nimmt eine zentrale Position in derjenigen Textstelle ein, die immer wieder
als entscheidende Grundlage für das Bildprogramm der Stanza della Segnatura
vorgeschlagen wurde. Diese nämlich erlaubt es, unter Berufung auf kirchenväterliche
Autorität die heidnische Antike mit der christlichen Tradition zu versöhnen - ein
Anliegen, für das sich nicht nur Theologen, wie etwa Egidio da Viterbo, auf Augustinus
beriefen, sondern auch Dichter wie Boccaccio. Im achten Buch von Augustinus' Gottesstaat
(De civitate dei libri) heißt es zur Rechtfertigung einer theologia naturalis:
Da die Weisheit (sapientia), durch die alles geschaffen ist, Gott sei, wie die
göttliche Autorität und Wahrheit - auctoritasveritasque - selbst gezeigt
habe, sei der wahre Philosoph (das heißt: der die Weisheit Liebende) letztlich der Gott
Liebende (amator dei). "Porro si sapientia Deus est, per quam facta sunt
omnia, sicut divina auctoritas veritasque monstravit, verus philosophus est amator
dei".
Platon und Aristoteles wären demnach in Raffaels Gemälde als natürliche
Theologen charakterisiert, in deren Philosophie sich bereits vor der Inkarnation
Christi Veritas und Auctoritas der göttlichen Weisheit offenbart haben.
Somit läge eine weitere, ganz andere Art der Antikenrezeption vor als bei der
zuvor getroffenen Deutung der Gesten als rhetorische. Die Wiederbelebung der Antike
geschähe dadurch, daß die Gesten im Sinne einer wohl für antikisch gehaltenen
Symbolauffassung - im Sinne der Hieroglyphenlehre der Renaissance - eine zunächst
verborgene Bedeutung enthalten, die sich unter Hinzunahme von Wissen erst nach
ausführlicher Bildlektüre erschließt. Die besondere Subtilität im Fall der Schule
von Athen bestünde darin, daß der literarische Bezugspunkt der symbolischen Deutung,
die Aussage des Kirchenvaters Augustinus, zugleich Schlüsselstelle für die
Rechtfertigung eben dieses Umgangs mit dem antiken Erbe ist.
Gerade der für das Verständnis des Bildprogramms unentbehrliche Egidio da Viterbo
zählte, wie Edgar Wind gezeigt hat, zu den Vertretern einer änigmatischen Sprechweise,
da der göttliche Strahl den Menschen nicht erreichen könne, außer durch poetische
Schleier. Unter dem Mantel der antiken Rhetorik verbirgt sich in Raffaels Bild eine für
antik erachtete Art der Symbolik, deren Inhalt sich erst aus einer umfassenden Lektüre
des Gesamtprogramms ergibt. Die Anspielung auf die Paulusikonographie, die man seinerzeit
häufig mit dessen Predigt über den Altar des unbekannten Gottes verband, erhöht noch
den änigmatischen Effekt. Platon wird auf diese Weise als Verkünder einer Wahrheit
präsentiert, die erst durch den Apostel selbst im gegenüberliegenden Bild der Diputà
ihre eigentliche, christliche Offenbarung erfährt.
Wir hätten es demnach mit einem Bildkonzept zu tun, das tatsächlich in gewissem
Maße dem widerspricht, was Alberti und Leonardo für die historia forderten,
nämlich eine möglichst leicht verständliche, eindeutige Bildaussage in der Anwendung
von Mimik und Gestik. Das hier bestehende änigmatische Konzept kann allerdings als
Hinweis auf die spezifische Wirkungsweise der Malerei aufgefaßt werden, die Leonardo da
Vinci besonders betonte. In seinen Aussagen zum Paragone wies dieser darauf hin, daß der
entscheidende Vorteil der Malerei gegenüber der Poesie darin bestehe, daß die Malerei
dadurch weit unmittelbarer auf den Rezipienten wirke, daß sie nicht in sukzessiver
Abfolge, sondern als harmonische Gesamtheit begegne. In dieser Gesamtheit aber sind alle
möglichen Bedeutungen enthalten, auch oder gerade, wenn sie noch nicht in Sprache
übersetzt sind.
Man kann deshalb den Gestus Platons in Raffaels Schule von Athen als Antwort
auf den Paragone verstehen: Anstelle einer eindeutigen Aussage erweist das Bild die
Möglichkeit, unterschiedliche, teilweise zunächst verborgene Aussagen zu treffen, die
nicht, wie bei der Poesie auf Sukzessivität angewiesen sind, sondern die in der Gestalt
eines einzigen dargestellten Gestus gleichzeitig bestehen, weil dieser auf verschiedenen
Mitteilungsebenen gelesen und verstanden werden kann.
Der zeitgenössische Betrachter könnte unter diesen Voraussetzungen über die
theologischen und kirchenpolitischen Implikationen hinaus mit der Repräsentation von veritas
und auctoritas auch einen Hinweis auf die "Poetologie" der Malerei
assoziiert. Auctoritas kann immerhin auch auf den Begriff der Autorschaft
verweisen, und die Frage der Veritas spielt eine zentrale Rolle in der
zeitgenössischen Rechtfertigung der Posie, deren Argumente in vielerlei Hinsicht auch die
Malerei betreffen. Gerade hinsichtlich des Wiederaufgreifens klassischer, insbesondere
mythologischer Concetti berief man sich immer wieder auf das Amt - das officium -
des Autors, das diesem zugleich Auctoritas verleiht; so wie schließlich Alberti das
"officium" des Malers betonte. Als etwa Boccaccio mit den letzten zwei seiner
Bücher zur Genealogia deorum gentilium die Dichtungstheorie seiner Zeit
zusammenfaßte, verteidigte er die Dichtkunst gegen den klassischen Vorwurf ihrer
Lügenhaftigkeit mit dem Argument, der Dichter erfinde nicht, um die Wahrheit zu
verfälschen, sondern weil es seinen "officium" entspreche. Boccaccio berief
sich unter anderem auf die weit verbreitete Gewohnheit, den Philosophen Platon als
Theologen aufzufassen, dessen Götter letztlich nichts anderes seien als Glieder oder
Amtsfunktionen des einen Gottes.
Wohlmöglich konnten Zeitgenossen im Gestus von Platon und Aristoteles auch eine
noch konkretere Stellungnahme in der damaligen Auseinandersetzung über die Rezeption des
antiken Erbes erkennen, die sich besonders an den fabulae Ovids entzündete. Sowohl
deren Gegner wie auch deren Befürworter beriefen sich in der Zeit um 1500 teilweise auf
den Apostel Paulus. Dieser hatte im zweiten Brief an Timotheus vorausgesagt: "man
wird der Wahrheit (veritas) nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien (fabulae)
zuwenden" (II Tim IV, 3-4).
Während etwa Savonarola unter Hinweis auf diese Stelle den antiken fabulae
jeglichen Wahrheitsgehalt absprach und sie verdammte, zitierte der Verleger der Pariser Ovidius
moralizatus-Ausgabe von 1509, Josse Bade, die selbe Stelle, um damit zu begründen,
daß man gerade wegen der großen Beliebtheit der fabulae sich ihrer - auch in der
Predigt - bedienen müsse, um mit ihrer Hilfe der Glaubenswahrheit zu dienen: "ut sic
per ipsas fictiones hominum possint morum et fidei mysteria confirmari".
In der Verknüpfung der konnotativen und der symbolischen Bedeutung des Gestus
Platons in der Schule von Athen könnte auf die im genannten Timotheus-Brief
formulierte Wahrheitsforderung des Apostelfürsten angespielt sein, die hier zugunsten
einer Einbindung des antiken Erbes in die christliche Weltdeutung in Anspruch genommen
würde.
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