Zeitschrift für Literatur und Philosophie
Gestik
Körper-Räume und Räumliche Körper. Gesten in der höfischen Epik um 1200
Silke Philipowski
Brünhild von Isenstein will nur den Mann heiraten, der erwiesenermaßen der stärkste und mächtigste ist. Als Siegfried von Xanten seinem Freund Gunther von Worms hilft, um Brünhild zu werben, müssen die beiden Helden Brünhild deshalb suggerieren, daß Gunther der Herr Siegfrieds ist und Siegfried Gunthers Vasall.
Um diesen Eindruck zu erzeugen, greifen beide zu einem bemerkenswerten Trick: Sie vereinbaren, daß Siegfried vor Brünhilds Augen Gunthers Steigbügel halten solle. Das ist der berühmte Stratordienst:
Ir wâren niewan viere, die kômen in daz lanz.
Sîfrit der küene ein ros zôch ûf den sant;
daz sâhen durch die venster diu waetlîchen wîp.
Des dûhte sich getiuret des künec Guntheres lîp.

Er habte im dâ bî zoume daz zierlîche marc,
gúot únde schoene, vil michel unde starc,
unz daz der künec Gunther in den satel gesaz.
Alsô diente im Sîfrit, des er doch sît vil gar vergaz.


Strophe 396f.(1)
Noch interessanter als diese fingierte Geste ist, daß Brünhild ihr keinen Glauben schenkt - denn ungeachtet dieser Unterwerfungsgeste geht sie bei der Begrüßung der beiden schnurstracks auf Siegfried zu, weil sie intuitiv ihn für den Werber hält und nicht den schwächlichen Gunther:
'Vil michel iuwer genâde, mîn frou Prünhilt,
daz ir mich ruochet grüezen, fürsten tohter milt,
vor disem edelen recken, der hie vor mir stât,
wande er ist mîn herre: der êren het ich gerne rât.


Strophe 420.
Daraus lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen:
1. Gesten können im höfischen Epos um 1200 abstrahiert, also vom Körper abgelöst und instrumentalisiert werden.
2. Gesten können im höfischen Epos um 1200 nicht vom Körper abgelöst werden, bzw. wenn sie von der Objektivität des Körpers abgetrennt werden, von der Wahrheit, die sie bezeugen sollen, sind sie wirkungslos und unglaubwürdig. Denn Gesten sind in der höfischen Epik um 1200 keine eigenständige Entität, sie sind nicht autonom, sondern sie sind die Äußerungsform des Körpers. Erst durch sie wird er lesbar, durch sie erlangt er jene Identität, die er wiederum durch Gesten ausweist. Gesten sind also Koordinaten, die die soziale Bedeutung eines Körpers definieren. Ihre Funktion besteht darin, Unsichtbares sichtbar zu machen und dem Körperlosen einen Körper zu geben.
Gesten sind sichtbare Zustände, darum sind sie objektiv, sie können nicht lügen. So gelingt es auch Siegfried nicht, Brünhild durch seinen Stratordienst davon zu überzeugen, daß er Gunther unterlegen sei. Denn Siegfried ist faktisch 'besser' als Gunther; er ist im Besitz des unermeßlichen Nibelungenhortes, ist durch sein Bad im Drachenblut nahezu unbesiegbar und er ist kühner als Gunther. Und weil er das ist, sieht man es. Und weil man es sieht, kann auch die Geste nicht das Gegenteil suggerieren - doch wie können Siegfried und Gunther dann ihre eigene Logik überschreiten, gleichsam aus ihr heraustreten und sie benutzen, um ihre eigenen Pläne damit zu verfolgen? Vielleicht gerade weil sie als Repräsentanten einer sozialen Gemeinschaft wissen, wie untrüglich die Geste ist und sein muß? Im höfischen Epos besteht eine Sprache der Eindeutigkeit. Diese Eindeutigkeit ist durch Sichtbarkeit verbürgt. Es läßt sich also als Arbeitshypothese folgende Gesten-Definition für die höfische Epik um 1200 formulieren: Unter 'Geste'(2) werden alle jene Äußerungsformen des Körpers subsumiert, die eine spezifischen 'Signifikanz' haben, also Informationen über den Zustand der Figur tragen, unabhängig davon, ob diese Äußerungen bewußt und unbewußt vollzogen werden. Der objektive Körper artikuliert sich durch Gesten; und weil er objektiv ist, kommt er ohne Bewußtsein aus, ohne geistige oder mentale Präsenz. So läßt sich bsw. die Bahrprobe als Geste auffassen: Die Wunden Ascalons brechen erneut auf, als sich der Trauerzug seinem Mörder Iwein nähert:
Nû ist uns ein dinc geseit
vil dicke vür die wârheit,
swer den andern habe erslagen,
und wurder vür getragen,
swie langer dâ vor waere wunt,
er begunde bluoten anderstunt.
Nû seht, alsô begunden
im bluoten sîne wunden...


Iwein v. 1355ff.(3)
Das gleiche widerfährt Siegfried, als sein Mörder Hagen an die Totenbahre tritt:
Daz ist ein michel wunder; vil dicke ez noch geschieht:
swâ man den mortmeilen bî dem tôten siht,
sô bluotent im die wunden, als ouch dâ geschach.
Dâ von man die schulde dâ ze Hagene gesach.


Strophe 1044.(4)
Der Gestenbegriff wird also auf unwillkürliche und unbewußte Bewegungen ausgeweitet, denn der Körper artikuliert sich nicht nur, indem er sich bewegt - er kann sich auch durch die Verweigerung von Bewegung artikulieren wie im Falle Lancelots, der beim Anblick seiner Königin vor lauter minne vollkommen gelähmt ist:
Der ritter begund sie zu besehenn und vergaß sinselbs.(5)

Er sah das sie so gar schön was vor den anderen allen und der glichen in der ganczen welt nit was, und erschrack von stund also sere das er nit wust ob er schlieff oder wacht oder ob er zu pferd oder zu fuß was. Sin blut was im erwalt und sin hercz erweicht also sere das im das schwert uß syner hant vil, und verlor alle syn macht, das er kum im sattel bliben mocht, und begreiff den sattelbogen sich daran zu halten. Er sah sie ummer mere an ser fast und lang. [...] Da ging im das hercz ye mer ab, er was also sere verwunt das er wol fulte das er zur erden fallen must, ob er nymands funde der yn hielt.
(6)
Dennoch muß der Körper Bewegung weder vollziehen noch verweigern, um lesbar zu sein: Als bsw. der Markgraf Willehalm an den Hof des Königs von Frankreich kommt, um dort Unterstützung für sein Heer zu erbitten, das sich gerade der geballten Heideninvasion zu erwehren hat, betritt er den Hof mit umgegürtetem Schwert, das er später sogar aus der Scheide zieht, und macht damit augenfällig, daß er nicht gekommen ist, um zu feiern:
er truoc daz swert umbe sînen lîp.
[s]înes kom[e]ns heten haz
der künec und swer dâ vürsten saz:
[...] der marcgrâve an den stunden,
d[e]z swert niht ab gebunden,
[...] er zuct'z vür sich inz schôz


Willehalm v.140,30ff.(7)
Diese Geste des Eindringens von Gewalt an den Hof, an dem Gewalt nur als gezähmte, formierte, umgeleitete bestehen darf, ist die gleiche, mit der Hagen am Etzehlhof den Hunnen seine Gewaltbereitschaft zu verstehen gibt:
Der übermüete Hagene leite über sîniu bein
ein vil liehtez wâfen, ûz des knopfe schein
ein vil liehter jaspes, grüener danne ein gras.
Wol erkandez Krimhilt, daz ez Sîfrídes was.


Strophe 1783.
Die Frage, ob Hagen Kriemhild damit bewußt zur offenen Auseinandersetzung reizt oder nicht, führt hier ins Leere: Hagen kann gar nicht provozieren. Sein ganzes Wesen Kriemhild gegenüber ist feindseelig. Wenn er die Geste der Schwertenblößung bewußt und berechnend vollzieht, ist er damit ebenso 'ehrlich' und 'authentisch', wie wenn sich die Geste unbedacht, gleichsam von selbst, ereignen würde. Der Heroe kann immer nur er selbst sein, er kann sich immer nur zum Ausdruck bringen, selbst dort noch - Siegfrieds vergeblicher Steigbügeldienst bestätigt es - wo er lügt. Denn der höfische Heroe trägt sein Inneres außen, sein Äußeres innen - das meinen die Begriffe 'Lesbarkeit' und 'Objektivität'. Es gibt keine Differenzierung in eine Seele(8) und einen Körper, der diese Seele abbilden, offenbaren oder verhüllen kann: 'Nichts ist primärer als die leiblich seelische Einheit einer Gebärde, sie ist der überzeugende Ausdruck jener rätselhaften Einheit von Leib und Seele selbst'.(9) Wenn es überhaupt einen Ort gibt, der dem Inneren zukommt, dann ist das - paradoxerweise - eben das, was für uns das Äußere oder der Körper ist, weil wir die Differenzierung in beides schon vollzogen haben und sprachlich immer schon in Wendungen wie 'Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen'(10), 'sichtbare Worte des Menschen'(11), 'Sprache der Gebärden'(12) und ähnlichem vollziehen, wenn wir von Gesten reden. Doch:
"Nicht verweist der zerschlagene Markgraf [...] auf einen nicht gegenwärtigen Zustand, sondern er ist unmittelbar und ganz dinglich dieser Zustand selbst (sein Panzer deshalb keine Metapher); nicht redet er vom Krieg in der Provence, sondern leibhaftig schleppt er ihn an den friedlichen Hof; nicht also bereits in Formen symbolischer Kommunikation verständigt man sich über die Verhältnisse, die stehen naturaliter da und entfalten die Sprengkraft ihrer Widersprüche."(13)
Implizit ist der vorgeschlagenen Gesten-Definition insofern auch, daß niemals von vornherein feststehen kann, welche Körperbeschreibungen in der Dichtung Gesten sind und welche nicht - erst der Interpretationskontext macht Gesten zu Gesten, erkennt sie als solche, denn in manchen Zusammenhängen kann die Information, wie der Ritter im Sattel sitzt, belanglos sein, in anderen der Beweis dafür, daß er Melancholiker, Sieger oder Narr ist.
Damit unterscheidet sich meine Definition in vielerlei Hinsicht von den meisten Gesten-Definitionen; diese betonen - auch in der mediävistischen Forschung - die Zeichenhaftigkeit der Geste. Für den Begriff 'Zeichen' wird auch oft 'Ausdruck' oder 'Abbild' eingesetzt - gemeint ist stets das gleiche: Der Körper ist Vektor der Seele, an ihm zeichnet sich ab, was ihr entspringt, so daß der Körper Signifikat seines inneren Zustandes ist: 'Tränen und Fußfälle gehörten zur konventionellen "Sprache" des Bittenden.'(14) 'Die geheimen Bewegungen der im Innern der Person verborgenen Seele werden durch sie [die Geste] nach außen kenntlich gemacht.'(15) Gebärden sind, so ist immer aufs neue zu erfahren, 'emotionaler Ausdruck und offenbaren wie ein Monolog die innere, exisitentielle Befindlichkeit der Gestalt in einer bestimmten Situation.'(16) Dieses Abbildtheorie begegnet auch in Theorien des 'New Historicism' - beispielsweise bei Clifford Geertz. Auch für ihn sind Gesten 'Verkörperungen': 'Sie [...] sind [...] faßbare Formen von Vorstellungen [...], aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Abstraktionen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen.'(17) Weil Gesten stets als 'Repräsentanten' aufgefaßt werden, ist 'die Forschung zum Gebaren [...] in großen Teilen psychologische Forschung'.(18) Auch wo Gesten oder Gebärden als die 'sichtbaren Worte des Menschen'(19) aufgefaßt werden, wird implizit unterstellt, daß sie etwas bedeuten, was sie selbst nicht sind, daß 'Emotionen [...] Zeichen'(20) sind, bzw. daß 'dieses Terrain von zeichenhaftem Handeln dominiert wurde.'(21) Dadurch liegt die Assoziation mit dem Zeichensystem 'Sprache' nahe: 'Sprache ganz allgemein ist als ein System konventioneller Zeichen definiert worden [...]. Alles dies gilt in vergleichbarer Weise auch für die Sprache der Gebärden.'(22) Doch läßt sich eines der Hauptmerkmale von Sprache, ihre Arbitrarität, wirklich auf Gesten und ihre Signifikanz übertragen? Ich möchte das - zumindest für meinen Bereich - bezweifeln. Wo immer vom 'Zeichen' - in welcher Spielart auch immer - gesprochen wird, wird eine Differenzierung zwischen Signifikat und Signifikant stets vorausgesetzt. Doch diese Trennung ist für den Körper, wie er in der höfischen Dichtung um 1200 beschrieben wird, heuristisch kein hilfreiches Axiom. Denn diese Körper weisen keine Seele, keinen 'Innenraum' auf - wenn sie selbst über sich Auskunft geben sollen, sprechen sie denn auch von keiner Entität, die sich aus dem Leib zurückgezogen hätte oder darüber hinausgewachsen wäre. Sitz der Identität und verantwortliche Schaltzentrale ist - der 'lîp': Nicht Eneas wird von seinen Verwandten, den Göttern, gerettet, sondern sein Leib: 'do hiezen mich mîn lîp neren / mîne mâge die gote',(23) König Marke geht sein Schuldgefühl 'an die Nieren', nämlich: 'und gieng im rehte an sînen lîp'.(24) Die Blutstropfen im Schnee schlagen nicht Parzival in Bann, sondern 'Parzivals getriuwen lîp',(25) und Iwein ist nicht selbst auf die Idee gekommen, sich in Laudine zu verlieben, vielmehr sagt er: 'mir rietz niuwan mîn selbes lîp.'(26) . Weil dieser Körper so präsent, so undurchdringlich ist, werfen die höfischen Heroen das, was sich (vielleicht) später zu ihrem eigenen 'Innen' entwickeln wird, nach außen, wo es sich nicht nur an ihrem Körper als Geste, sondern auch als sie umgebender 'Raum' verdinglicht. Dieser Raum - Wald, Aue, Krönungssaal, boumegarten, Turnierfeld oder Quelle - ist ebenso organisch eins mit dem Ritter wie seine Gestik. Der Raum entspringt sogar - wie ich im folgenden zeigen werde - der agierenden Figur, genauer: seiner Geste. Sie erzeugt den Raum, in dem sie stattfindet, so daß der Raum wiederum stets auf die ihn generierende Geste zurückverweist. So entsteht eine Trias aus Körper - Geste - Raum, die dazu verführt, von körperlichen Räumen und räumlichen Körpern (oder Raumkörpern) zu sprechen. Oder die terminologische Differenzierung zwischen beiden ganz aufzuheben. Doch für diese Art des 'Augen-fällig-werdens' sieht unser Sprachsystem keine Lösung vor.
Isenstein
Brühnhild, die Gunther freien will, kommt aus einem fremden Land mit fremden Sitten. So muß auf Isenstein jeder Werber mit Brünhild Wettkämpfe austragen. Wer sie nicht besteht, dem wird nicht nur die Hand der schönen Königin verwehrt, sondern der verliert darüberhinaus auch sein Leben - ohne wenn und aber. In Worm herrschen andere Sitten. Als bsw. Siegfried aus Xanten an den Wormser Hof kommt und polternd und rasselnd Land und Leute fordert:
'Nu ir sît sô küene, als mir ist geseit,
sone rúoche ich, ist daz iemen líep óder leit;
ich will an iu ertwingen swaz ir muget hân:
lánt únde bürge, daz sol mir werden undertân.'


Strophe 110.
da gelingt es dem jungen König Gernot, Gunthers Bruder, den schier unabwendbaren Konflikt nach einigem Hin- und Her durch eine Geste der Gastfreundschaft und eine symbolische Herrschaftsübertragung zur allseitigen Zufriedenheit zu lösen; er sagt zum wutschnaubenden Recken aus Xanten die berühmten Worte:
"Ir sult wesen wíllekómen', sô sprach daz Uoten kint,
'mit iuwern hergesellen, die mit iu komen sînt!
Wir sulen iu gerne dienen, ich und die mâge mîn.'
Dô hiez man den gesten schénken den Gúntheres wîn.

Dô sprach der wirt des landes: 'allez daz wir hân,
geruochet irs nach êren, daz sî iu undertân,
und sî mit iu geteilet lîp unde guot.'
Dô wart der herre Sîvrit ein lützel sánftér gemuot.


Strophe 126f.
Undenkbar solche friedenssichernden Verhandlungen auf Isenstein. Und ebenso undenkbar wäre es in Worms, daß eine Frau archaische Kampfspiele mit Männern austrägt. Wlten liegen zwischen beiden Höfen - nicht nur metaphorische Welten, sondern konkrete Räume: Meere. Denn Brünhilds Heimat ist - wie kann es anders sein bei so fremdartigen Sitten - eine Insel, zu der man nur sehr schwer gelangt und zu der der Weg nur wenigen bekannt ist. Diese nahezu unüberwindliche Distanz zwischen Worms und Isenstein wiederholt sich im Mikrokosmos des Schlafgemaches: Gunther hat durch Siegfrieds Hilfe Brünhild zwar erworben und sie heim nach Worms geführt. Dennoch ist die Braut weder tatsächlich erstritten, noch die Distanz zwischen beiden Figuren wirklich überwunden. Gunther kann es deshalb nicht gelingen, sich seiner Frau zu nähern: Aus Unwillen über seine Versuche hängt sie ihn kurzerhand an einem Nagel auf und gewährleistet so, daß die Distanz zwischen beiden bis zum Morgengrauen aufrecht erhalten bleibt. Diese Distanz wird sich auch durch die Gewalt, mit der der durch seine Tarnkappe unsichtbare Siegfried Brünhild festhält, damit Gunther sie beschlafen und ihrer mythischen Kräfte berauben kann, niemals überwunden werden, sondern immer wieder sichtbar ins Bild treten. So bsw., als die Königinnen Brünhild und Kriemhild, Siefgrieds Frau und Gunthers Schwester, vor dem Münster über die Ursache der unüberwindlichen Distanz zwischen Gunther und Brünhild, nämlich die Frage der Superiorität und Inferiorität, zu streiten beginnen. Auch diese Uneinigkeit bleibt nicht symbolisch, sondern wird ganz konkret, so konkret, daß jeder Stallknecht sie sehen und jede Bauernmagd sie verstehen kann: Das Gefolge der beiden Königinnen teilt sich:
'Dô sprach aber Prünhilt: 'wiltu niht eigen sîn,
sô muostu dich scheiden mit den frouwen dîn
von mînem ingesinde, dâ wir zem münster gân.'
Des antwurte Kriemhilt: 'entriuwen, daz sol sîn getân.'


Strophe 830.


Die liute nam des wunder, wâ von daz geschach,
daz man die küneginne alsô gescheiden sach,
daz si bî einander niht giengen alsam
dâ von wart manegem degene sît vil sorclîchen wê.


Strophe 834.
Münster
Dieser Streit zwischen den Königinnen wird gleichermaßen räumlich und gestisch ausgetragen. Nachdem Brünhild Kriemhild als die Frau eines Vasallen - für den sie Siegfried halten muß, weil er sich selbst als einer ausgegeben hatte - angesprochen hat, reagiert Kriemhild darauf, indem sie Brünhild den Ring und den Gürtel vorzeigt, den Siegfried als Trophäen seiner Unterwerfung von Brünhild in der Brautnacht seiner Frau mitgebracht hatte. All dies spielt sich in der Öffentlichkeit vor dem Münster ab. Brünhild ist vollständig entehrt und Kriemhild zieht als erste mit ihrem Gefolge in das Münster ein.
Das Münster ist seit dem Hochmittelalter eine Bischofskirche und somit 'Eigenkirche' des Bischofs. Der Bischof aber ist eine Chimäre zwischen Geistlichkeit und Weltlichkeit:
"Zumal sie meist aus den mächtigsten Familien eines Reiches kamen, waren sie [die Bischöfe] keineswegs nur geistl. Instanzen, sondern Feudalherren, die auch weltl. Macht ausübten, über ihre B.sstadt, ihre Territorien (Hochstifte), ihre königl. Lehen, als Reichsverweser, als Mitglied d. Kronrates [...]."(27)
Im Hochmittelalter verschwimmt die Grenze zwischen geistlichem und weltlichem Amt immer mehr:
"Die Angleichung der Reichsbischöfe an den Adel fand ihren Ausdruck auch in der Verleihung von Herzogtümern an einzelne Bischöfe. [...] Seit der folgenreichen Schwächung der königlichen Gewalt in den Jahrzehnten des Thronstreites gewannen die Hochadelsfamilien, deren Angehörige zumeist auch in den Domkapiteln dominierten - freilich auch vielfach miteinander konkurrierten - , immer mehr Einfluß auf die Bischofswahlen."(28).
Wenn Kriemhild als Angehörige des Hochadels als Höhepunkt des Sieges gegen ihre Konkurrentin Brünhild ausgerechnet in ein Münster einzieht, so ist das kein Zufall - das Münster ist der Ort adliger Selbst-Repräsentation, feudaler Herrschaftslegitimation. Auch hier sind es wiederum Geste und Raum gleichermaßen, die den Zustand der Figur ausweisen - oder es ist der adlige Körper (in diesem Fall expandiert Kriemhilds Körper: Sie tritt nicht als 'Einzelperson' ins Münster ein - für die stratifikatorische höfische Gesellschaft ein irreführender Begriff - sondern in Gestalt von dreiundvierzig erlesenen und kostbar ausstaffierten Adligen Damen; Adel - und um nichts anderes geht es hier, nicht um Ehe, nicht um Liebe, nicht um Eifersucht - ist kein Prinzip von Individualität, sondern von Quantität:
'Nu kléidet iuch, mîne meide', sprach Sîfrides wîp.
'ez muoz âne schande blîben hie mîn lîp.
Ir sult wol lâzen schouwen, habt ir rîche wât
sie mac sîn gerne lougen, des Prünhilt verjehen hât.'

Mit drîn du vierzec meiden, die brâhte si an den Rîn,
die truogen liehte pfelle geworht in Arâbîn.
Sus kômen zuo dem münster die meide wo getân.
Ir warten vor dem hûse alle Sîfrides man.


Strophe 831f.
Es ist nicht ganz leicht, die Korrespondenz zwischen 'Außen' und 'Innen', zwischen Erscheinung und Zustand, Material und Seele zu belegen und zu beweisen. Aber warum sagt Kriemhild, als sie formuliert, wer frei von Schande bleiben muß, nicht 'ich', sondern 'mîn lîp'? Und warum meint sie, die Wiederherstellung ihrer Ehre dadurch erreichen zu können, daß sie ihre Mädchen herausputzt?
Kemenate
Die Kemenate ist jener Sonder-Raum, in dem die Handlung des Tageliedes sich zuträgt: Der Ritter schleicht sich abends heimlich hinein, verbringt eine glückliche Nacht mit der frouwe, die er beim ersten Morgengrauen wieder verlassen muß, weil die Beziehung beider aus Gründen, die wir im Tagelied selbst nicht erfahren, illegitim und deshalb gefährlich ist. Konstitutiv für die Liebesbegegnung ist der Raum, der das Paar umgibt, es schützt und als Paar de-finiert. Er konstituiert Oppositionen, die es zuvor nicht gegeben hat: Es entsteht nun ein Innen-Raum, der vom öffentlichen Raum abgegrenzt, ihm sogar entgegengesetzt ist. Das Tagelied macht die Schwelle zwischen dem Raum der minnenden und dem der Anderen, die zu zwei völlig inkompatiblen Bereichen geworden sind, zu ihrem Gegenstand und betont damit ihre Unversöhnlichkeit, nämlich die zwischen minne und êre. Den Räumen, in denen die minnenden agieren, entsprechen die Tages- und Nachtzeiten: 'naht gît senfte, wê tuot tac', sagt die Dame in Otto von Botenlaubens Tagelied 'Wie sol ich den ritter'(29).
Das Tagelied beschreibt also die Entstehung von Zweisamkeit und Nähe aus einem konketen (und nicht subjektiv-personalen) Innenraum, der Kemenate. Dieser Innenraum wiederum entsteht aus der Abgrenzung gegen den öffentlichen Raum, entsteht aus der Abgrenzung des Tages gegen die Nacht, konstituiert sich also in der räumlichen und zeitlichen Abgrenzung gegen die Bereiche, die Öffentlichkeit oder Gesellschaftlichkeit markieren. Wie eine Blase umgibt dieser Raum die Liebenden, aufgeblasen durch die Zärtlichkeit und Liebe, die sich beide entgegenbringen. Deshalb existiert das Tagelied auch nur in der Gemeinschaft beider - meines Wissens gibt es kein Tagelied, das sich über den Zeitraum der Ankunft oder des Abschied des Ritters erstrecken würde. Fast scheint es, als seien Zweisamkeit, Raum und Lied eins. Alles basiert auf dem starken Affekt, der die Liebenden verbindet und sich topisch in der letzten Liebesvereinigung bekundet. Der vehementen Zweisamkeit und Innigkeit des Inneraumes steht die Bedrohlichkeit des 'außen' gegenüber, die als Tier, als Dämon ihre Klauen in die Kemenate schlägt...
Sîne klâwen
durch die wolken sint geslagen,
er stîget ûf mit grôzer kraft;
ich sich in grâwen
tegelîch, als er will tagen:
den tac, der im geselleschaft
Erwenden will, dem werden man...


MF, Wolfram von Eschenbach II 1 1-7.(30)
und durch die Fenster eindringt, so daß das Paar sich nur noch enger aneinanderschmiegt:
Der tac mit kraft al durch diu venster dranc.
Vil slôze sî besluzzen.
Daz half niht; des wart in sorge kunt.
Diu vríundîn den vriunt vast an sich dwanc.
Ir ougen diu beguzzen
ir beider wangel...


MF Wolfram von Eschenbach I, 2 1-6.
Diese gesellschaftliche Bedrohung, das heraufsteigende Tageslicht, ist die Gegenkraft jener bergenden Intimität der minne. Wo beide, Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, Zweisamkeit und Einsamkeit, aufeinaderprallen, entsteht als Membram jener Antithetik - der Raum, die Wand der Kemenate, die das Paar braucht, um Paar sein zu können. Der Abgrund, der zwischen 'draußen' und 'drinnen' herrscht, ist so unüberwindlich, daß der Ritter eines Vermittlers bedarf, um ihn überwinden zu können. Dieser Vermittler, der beiden Bereichen zugehörig ist und beide zueinander in Beziehung setzt, ist der Wächter. Er ist zwar ein Eingeweihter, aber kein Verbündeter, ein Sympathisant, aber kein Verschwörer. Er ist dem Ritter gegenüber loyal, aber nur, weil er um seine gesellschaftliche Stellung weiß und sie anerkennt. Deshalb hilft er ihm, die Kemenate rechtzeitig zu verlassen, auch wenn er sich damit den Zorn der frouwe zuzieht:
'Dîn zorn sî dir vil gar vertragen:
der ritter sol niht hie betagen,
wecke in, frouwe!
Er gab sich ûf die triuwe mîn:
do enpfalch ich in den gnâden dîn.
Wecke in, frouwe!
Vil saelic wîp, sol er den lîp
verliesen, sô sîn wir mit im verlorn.
Ich singe, ich sage, est an dem tage,
nu wecke in, wande in wecket doch mîn horn.
Wecke in, frouwe!'
(31)
Ohne den Raum, die Kemenate, ihr Schneckenhaus, könnte das Paar nicht Paar sein. Und ohne seine Liebesbekundungen, die sich in den Gesten des Abschiedschmerzes bekunden: 'Si kuste âne zal in dem slâfe mich',(32) 'ir brüstlîn an brust sie dwanc'(33), 'unvrömedez rucken, gar heinlîch smucken, ir brüstel drucken'(34) könnten sie sich als Paar nicht mitteilen. Solche intimen Beschäftigungen sind nur in einem besonderen Raum möglich, wobei auch hier 'Raum' wieder kein Außenraum, sondern eher ein körperlicher, dinglicher, greifbarer 'Innenraum' ist. Auf sehr prägnante Weise reflektiert diese Tatsache die Umschlagabbildung des Bändchens 'Tagelieder des deutschen Mittelalters'. Es zeigt eine Miniatur der großen Heidelberger Liederhandschrift (Konrad von Altstetten), auf der ein Liebespaar abgebildet ist, das eine fröhliche Verkehrung des 'Pieta-Motives' zeigt: Der Ritter liegt mit ausgebreiteten Armen im Schoß der sitzenden Frau, die sich, den Ritter von hinten umarmend, über ihn beugt. Die Szene wird von einem Pflanzenornament überdacht, das dem Paar durch den Rahmen, den es bildet, Raum verschafft und es gleichzeitig eingrenzt. Die intensive Ge-borgenheit, die dadurch erzeugt wird, wird sogar noch von den Blüten des Baumes ausgesagt, die sich in ihren eigenen Zweigen selbst in große Kreise einzirkeln und bergen.
Doch woraus erwächst dieser ornamentale Pflanzen-Rahmen? Gerade damit ist das Tagelied so überaus treffend charakterisiert: Denn er erwächst genau aus dem Paar selbst und erinnert damit an das Schlußbild des 'Tristan', so wie Heinrich von Freiberg ihn zuende dichtet (hier der Kürze halber in der Nacherzählung Rüdiger Krohns):
Die Särge des Paares stehen nicht weit voneinander. Auf Tristans Grab läßt Marke einen Rosenstock, auf Isoldes eine Weinrebe setzen. Beide Pflanzen senken ihre Wurzeln tief in die Herzen der Liebenden, wo der Minnetrank noch immer fortwirkt: Rose und Rebe verflechten sich innig ineinander(35).
Schiff
Als Tristan Isolde mit dem Schiff von Irland nach England begleitet, um sie dort König Marke als Braut zuzuführen, wird auf dem Schiff der Liebestrank, der eigentlich für Marke und Isolde gedacht ist, verwechselt und von Tristan und Isolde getrunken. Wenig später entfaltet der Liebestrank seine Wirkung. Was auch immer 'minne' sein mag, ein Attribut ist unbestreitbar: minne ist immer sichtbar, und das ist vielleicht, was sie von 'Liebe' unterscheidet. Gottfried beschreibt den Mechanismus dieses Affektes treffend mit der Angleichung der Gesichtsfarbe an den Zustand der beiden:
sô wart ir lîch gelîche var
dem herzen unde dem sinne.
Minne die verwaerinne
die endûhte es niht dâ mite genuoc,
daz man s'in edelen herzen truoc
verholne unde tougen,
sine wollte under ougen
ouch offenbaeren ir gewalt.


Tristan v.11906-11913.
In den nächsten 100 Versen wird die minne beschrieben, die sich auf ihren Körpern durch Erröten, Erblassen, Blicke niederwerfen, sich verliebt ansehen, seufzen e.t.c. zu erkennen gibt. Doch was diese minne tatsächlich bewirkt, wird erst im weiteren Verlauf der Handlung beschrieben werden: die vollständige Verschmelzung zweier adliger Körper. Eines der schönsten Bilder dafür ist die letzte Vereinigung Tristans und Isoldes aus der Perspektive des Ausgeschlossenen, nämlich aus der des betrogenen König Marke:
wîp unde neven die vander
mit armen zuo z'ein ander
gevlohten nâhe und ange,
ir wange an sînem wange,
ir munt an sînem munde.
Swaz er gesehen kunde,
daz in diu decke sehen lie,
daz vür daz deckelachen gie
zuo dem oberen ende:
ir arme unde ir hende,
ir ahsel unde ir brustbein
diu wâren alsô nâhe in ein
getwungen unde geslozzen:
und waere ein werc gegozzen
von êre oder von golde,
ezn dorfte noch ensolde
niemer baz gevüeget sîn.


Tristan v. 18195-181211.
Oder, kürzer und noch prägnanter:
ob der sunnen drî mit blicke waeren,
sine möhten zwischen sî geliuhten.


Wolfram von Eschenbach MF VII, 38
Dieser geballten Intimität und Zweisamkeit korrespondiert der Sonderraum, der Tristan und Isolde auf dem Schiff umgibt. Es ist wiederum eine Kemenate, ein Schlafraum, doch diese Kemenate befindet sich auf einem Schiff, und dieses Schiff befindet sich auf dem Meer. Gleich drei Grenzen: Kemenatenwand, Schiffswand und Meeresgrenze, trennen das Paar von der feindseeligen und bedrohlichen Gesellschaft, die es in Cornwall erwartet.
Grotte
Nachdem König Marke das Verhältnis zwischen Tristan und Isolde letztlich doch aufgedeckt hat, schickt er beide in die Verbannung, und Verbannung, bzw. Identitätsverlust, Verlust gesellschaftlicher Integration, heißt im höfischen Epos immer 'Wald'. Doch für Tristan und Isolde ist der Wald nicht nur wilder Wald, nicht nur Dickicht und Wildniss, sondern auch 'Idylle'. Denn sie haben mit der gesellschaftlichen Anerkennung nicht ihre gesamte Identität verloren, sie fallen auf ihre gegenseitige unverbrüchliche minne zurück. Für den Wald bedeutet das, daß er zwar wild ist, aber das Paar findet in diesem Wald noch einen anderen, einen zweiten Raum: die minneGrotte. Er ist die Verräumlichung jener verbotenen und singulären minne, ein Spezialraum wie das Schiff:
von disem berge und disem hol
sô was ein tageweide wol
vels âne gevilde
und wüste unde wilde.
Dar enwas dekein gelegenheit
an wegen noch stîgen hin geleit.


Tristan v. 16761-16766.
Dieser mythische Raum wird von Gottfried eingehend beschrieben und explizit ausgelegt. In seiner Auslegung setzt er Bestandteile der Grotte mit Attributen reiner minne in Verbindung:
diu wîte deist der minnen craft,
wan ir craft ist unendehaft.
Diu hoehe deist der hôhe muot,
der sich ûf in diu wolken tuot...


Tristan v. 16937-16940.
Wald
Iwein 'vergißt' nach Ablauf der Frist von Jahr und Tag vor lauter Turnieren und Ritterspiel, zu seiner Frau Laudine zurückzukehren. Kaum fällt ihm ein, daß er sein Versprechen gebrochen hat, kommt auch schon die Dienerin seiner frouwe angeritten und denunziert ihn vor der versammelten Mannschaft des Artushofes:
'Künec Artûs, mich hât gesant
mîn vrouwe her in iuwer lant:
unde daz gebôt sî mir
daz ich iuch gruoze von ir,
und iuwer gesellen über al;
wan einen: der ist ûz der zal:
der sol iu sîn unmaere
als ein verrâtaere.'


Iwein v. 3111ff.
Nun ist aber triuwe(36), also Integrität, Verläßlichkeit, Souveränität und auch Treue, genau das, was einen Ritter zum Ritter macht. Verliert er sie, verliert er seine Identität. Gawan formuliert das im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach, als eine vrouwe versucht, ihn von einem Versprechen, das er einer anderen Frau gegeben hatte, abzubringen, folgendermaßen:
er sprach 'vrouwe, iuwers mundes dôn
wil mich von triuwen scheiden.
untriuwe iu solde leiden.
mîn triuwe dolt die phandes nôt:
ist si unerloeset, ich bin tôt.


Parzival v. 370,8-12.(37)
Ein Ritter, den Parzival im Kampf überwunden hat, sagt über sich:
du hast den prîs und den vrumen.
Tuostu mir mêr, deist ân nôt.
Ich trage den lebendigen tôt


Parzival 213,20ff.
Das darf und muß man wörtlich nehmen; wer seine triuwe verliert, ist kein Mensch mehr. Und wie sich Hartmann von Aue, der 'Iwein' geschrieben hat, jemanden vorstellt, der zwar noch lebendig ist, aber kein Mensch mehr ist, erfährt man durch den 'Wahnsinn', dem Iwein verfällt, nachdem ihn Lunete, die Dienerin seiner Frau, vor allen Artusrittern geschmäht hat. Er entfernt sich still und unbemerkt vom Artushof, reißt sich dann die Kleider vom Leib und rennt nackt in den Wald. Dort vollzieht sich die Verkehrung höfischen Lebens: Er ist nicht mehr in Gesellschaft, sondern allein. Er spricht nicht mehr, sondern schweigt, er nimmt keine feine höfische Speise zu sich, sondern verschlingt die erbeuteten Tiere roh ('sone heter kezzel noch smalz, weder pfeffer noch salz: sîn salse was diu hungers nôt, diuz im briet unde sôt.' v. 3277ff.).
Die unhöfische Lebensführung und die Entfernung vom Hof müssen wiederum sichtbar werden - Iwein verliert nicht nur seine vornehme Blässe, er wird nicht nur dreckig und schmutzig, er wird richtiggehend schwarz: 'Sus twelte der unwîse ze walde mit der spîse, unz daz der edele tôre wart gelîch einem môre an allem sînem lîbe'. v. 3345ff.)
Aus gehend von diesen Textbeispielen läßt sich folgendes Fazit ziehen:
Affekte teilen sich nicht diskursiv oder spontan mit, sondern durch spezifische Gesten. 'Gefühle' finden also für eine Figur des höfischen Epos nicht 'Innen' statt, sondern 'außen'; außen heißt: an ihrem Körper, in ihren Bewegungen, an ihrer Rüstung oder Kleidung.
Raum wird zwar durch den Zustand einer Figur erzeugt, also durch ihren Zorn, ihre Schande, ihre Begierde oder ihre Ehre, aber da Affekte sich nur durch Gesten äußern, nicht unkörperlich, rein sprachlich, durch einen inneren Monolog oder im Rahmen eines seelischen Dramas, sind es eben letztlich sie, die Gesten, die die signifikanten, die sozialen Räume erzeugen. Räume sind - ebenso wie Gesten - 'Texte', die gelesen werden können und gelesen werden müssen, um den Zustand einer Figur adäquat begreifen zu können. Dennoch sind Gesten nicht subjektiv, in ihnen spricht sich kein Individuum aus, sondern eine sichtbare Wahrheit, die durch Objektivität, ja sogar durch Quanität verbürgt ist: Weil Enite, Erecs Frau, eine Königin ist und damit um vieles adliger als der Graf, der sie heiraten will, kann eine Annäherung an sie nicht gelingen. Als er sie zwingen will, an seiner Tafel fröhlich zu sein und zu essen, kommt es zur Eskalation, er schlägt sie ins Gesicht und verletzt sie, es fließt Blut:
sîn zorn in verleite
ze grôzer tôrheite
[und ûf grôzen ungevuoc,]
daz er si mit der hant sluoc
alsô daz diu guote
harte sêre bluote.


Erec v. 6518ff.(38)
Hier scheint wieder die gleiche Logik auf wie im Fall von Brünhild, die sich ihren inadäquaten Gatten vom Leib hält, indem sie ihn am Nagel aufhängt - zwei inadäquate Körper können keine minne zueinander herstellen.
Die Geste zwingt uns ein Paradox auf: Sind Affekte, die vollständig sichtbar sind, die vollständig lesbar sind, die vollständig objektiv sind, überhaupt noch 'Gefühle'? Kann ein Affakt, der sich darin erschöpft, den Körper zu durchdringen und sich in, an, durch ihn mitzuteilen, eine Emotion genannt werden? Setzt ein Gefühl nicht genau das voraus, was hier fehlt, nämlich 'Innerlichkeit', bzw. einen 'Innenraum'? Gibt es Gefühle ohne Sublimierung? Zwar artikuliert die Geste einen Zustand, sie zeigt, daß die Figur trauert, zürnt, desintegriert ist, aber sie re-prästenitert diese Affekte nicht, weil sie nicht im Inneren der Figur liegen, sondern nur in der Geste selbst. Weil eine Repräsentation stets eine Differenzierung in 'Innen' und 'Außen', in 'Leib' und 'Seele', in 'Signifikat' und 'Signifikant' voraussetzt, ist jede Bezeichnung der Geste als 'Zeichen', als 'Symbol' oder auch nur als 'Sprache des Körpers' wenn nicht falsch, so doch undifferenziert.
Ein adäquates Bild dieser Art von 'massiver' Identität durch 'Durchdringung' findet sich in der gotischen Kathedrale, deren Stützstreben dem Bauwerk von außen Stabilität und Kraft verleihen, sodaß es innen völlig diaphan und transparent wirkt, während das Skelett nur von außen sichtbar ist. Das Innere scheint so außen zu sein, daß Äußere, nämlich 'Wirkliche' und 'Tatsächliche', offenbart sich innen. Es ist eine Konstruktion, bei der sich Form und Inhalt, Aussage und Darstellung, Innen und Außen noch durchdringen und nicht voneinander getrennt haben.

(1) Das Nibelungenlied, herausgegeben, übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert. 2 Bd., Frankfurt a. M. 1996-97.
(2) Zum mittelhochdeutschen und altfranzösischen Vokabular aus dem Umkreis des Worte 'Gebärde' vgl. Dietmar Peil: Die Gebärde bei Chrétien, Hartmann und Wolfram. Erec - Iwein - Parzival. München 1975, S. 21ff. und Ruth Schmidt-Wiegand: Gebärdensprache im mittelalterlichen Recht. In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 16, 1982, S. 363-379.
(3) Hartmann von Aue: Iwein. Hrsg. von G.F. Benecke und K. Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff. Berlin 1968.
(4) Diese Meinung hielt sich noch mindestens bis zum Ende des 15. Jahrhunderts; der 'Hexenhammer' (Malleus maleficarum', Erstdruck 1487) berichtet, daß 'in Gegenwart des Mörders das Blut aus den Wunden des Gemordeten fließt: die Körper können also auch ohne die Kraft der Seele Wundertaten vollbringen.' Jakob Sprenger, Heinrich Institoris: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). Aus dem Lateinischen übertragen und eingeleitet von J.W.R. Schmidt. München 1999 (Erste Auflage 1906.), S. 23.
(5) Lancelot und Ginover. Prosalancelot, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff, 2 Bd., Frankfurt am Main 1995, Bd 1., S. 610, 10f.
(6) Lancelot. Nach der Kölner Papierhandschrift W.f° 46* Blankenheim und der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147, herausgegeben von Reinhold Kluge, 3 Bd., Berlin 1963, Bd. II, S.412.
(7) Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen hrsg. von Joachim Heinzle. Tübingen 1994.
(8) Zu der intensiven Diskussion zum Problem der Verwendung psychologischer Kategorien in der Mediävsitik vgl.: Helen Adolf: Personality in Medieval Poetry and Fiction. In: DVjS 44, 1970, S. 9-19; Jürgen Kühnel, Hans-Dieter Mück, Ursula Müller, Ulrich Müller (Hrsg.): Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. Göppingen 1985; Ursula Peters: Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problematik einer neueren Forschungsrichtung. In: Georg Störzel (Hrsg.): Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des deutschen Germanistentages 1984. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Berlin und New York 1985, S. 179-198.
(9) Hermann Pongs: Die Gebärde als Sinnbildausdruck. In: ders.: Das Bild in der Dichtung. Bd. 1: Versuch einer Morphologie der metaphorischen Formen. Marburg 1960, S. 25-42, Zitat auf S. 25. Nur wäre hier anzufügen, daß die Einheit von Seele und Leib so vollkommen ist, daß von voneinander unabhängigen Entitäten gar nicht mehr gesprochen werden kann.
(10) Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1997, S. 49.
(11) Thomas Ohm: Die Gebetsgebärden der Völker und das Christentum. Leiden 1948, S. 9.
(12) Ruth Schmidt-Wiegand: Gebärdensprache im mittelalterlichen Recht. In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 16, 1982, S. 363-379, Zitat auf S. 365.
(13) Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung I. München 1989, S. 53.
(14) Gerd Althoff: Empörung, Tränen, Zerknirschung. 'Emotionen' in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 30, 1996, S. 60-79, Zitat auf S. 69.
(15) Jean Claude Schmitt: Die Logik der Gesten im Mittelalter. Stuttgart 1992, S. 20
(16) Gerhard Neumann: Gesten und Gebärden in der griechischen Kunst. Berlin 1965, S. 2.
(17) Clifford Geertz 1997, S. 49.
(18) Martin J. Schubert 1991, S. 36.
(19) Thomas Ohm 1948, S. 9.
(20) Gerd Althoff 1996, S. 76.
(21) Claudia Garnier: Zeichen und Schrift. Symbolische Handlungen und literale Fixierung am Beispiel von Friedensschlüssen des 13. Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 263-287, Zitat auf S. 263.
(22) Ruth Schmidt-Wiegand 1982, S. 363-379, Zitat auf S. 365.
(23) Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1989, v. 309,8f.
(24) Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Rüdiger Krohn, 3 Bd., Stuttgart 1991ff.
(25) Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hrsg. von Albert Leitzmann, 3 Bd., 1963ff., v. 586,17.
(26) Iwein v. 2348.
(27) Peter Dinzelbacher (Hrsg.): Sachwörterbuch der Mediävistik.Stuttgart 1992, Artikel 'Bischof'.
(28) Alfred Haverkamp: Aufbruch und Gestaltung. Deutschland 1056-1273. Frankfurt am Main und Wien 1993, S. 273ff.
(29) Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus, Bd. I, Texte. Tübingen 1978, 41, XIII.
(30) Zitiert nach: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgabe von Karl Lachmann bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Stuttgart 1988.
(31) Markgraf von Hohenburg: Ich wache umb eines ritters lîp. In: Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Martina Backes. Stuttgart 1992, S. 122ff.
(32) MF Heinrich von Morungen XXX, 31.
(33) MF Wolfram von Eschenbach II, 56.
(34) MF Wolfram von Eschenbach V 3,11-13.
(35) Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Rüdiger Krohn, 3 Bd., Stuttgart 1991ff. Bd. 2, Fortsetzung: Heinrich von Freiberg, S. 590.
(36) Vgl. zum Begriff der triuwe auch: Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Âventiure und Minne: höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, Artikel 'triuwe: Zur ethischen Identität', S. 211-216.
(37) Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hrsg. von Albert Leitzmann, 3 Bd., 1963ff.
(38) Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 6. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985