Es war um 1590 in Bologna, daß ein ansonsten für seine Schweigsamkeit bekannter
Maler in eine komplexe kunsttheoretische Debatte einwarf: "Noi altri dipintori
habbiamo da parlare con le mani"(1) - wir Künstler müssen mit den Händen reden.
Die Aussage klingt banal, denn daß die bildende Kunst eine eigene Sprache besitzt,
und zwar eine sinnefällige, scheint evident. Für unser Tagungsthema an Problematik
gewinnt die Phrase, wenn wir ihren Kontext näher betrachten. Nichts geringeres nämlich
als die Sprachfähigkeit bildkünstlerischer Gestik steht zur Debatte: die Frage nach
möglichen unterschiedlichen Sprachmodi, deren sich die Gestik bediene je ob sie
literarisch-begrifflich oder mit den Mitteln der bildenden Kunst geäußert werde.
"Wir Künstler müssen mit den Händen reden", diese Sentenz von Annibale
Carracci ist Antwort in einem Diskurs, in dem versucht wurde die ausdrucksstarke Gestik
der antiken Statue des Laokoon begrifflich zu erfassen. Statt vieler weiterer Worte
zeichnete der Künstlers den Laokoon. Wohl eine indirekte Betrachteranekdote macht das
Beispiel deutlich, daß das Kunstwerk eigenständiger Diskussionspartner ist. Gleichwohl meint das keine absolute Ausschließlichkeit der beiden Medien Text und
Bild. Daß es zwischen ihnen Korrelationspunkte geben muß, ist unzweifelhaft:
Heiligenlegenden, Märtyrerberichte, kunsttheoretische Traktate, sie alle liegen vor und
sind von den Künstlern benutzt worden als Vorgabe zur Gestaltung der istoria. Wie
unterscheidet sich von ihnen aber die invenzione, die je konkrete Bildfindung? Auf kunsthistorischer Seite scheint mir für die italienische Kunst des 15. bis zur
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine exemplarische Zugriffsmöglichkeit auf die
Korrelation von Text und Bild durch die Physiognomik gegeben zu sein. Die Physiognomik ist
seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert ein Erkenntnisweg, der Erscheinungen deutet.
Gedeutet werden dabei nicht nur mimische Merkmale - die Einschränkung der Physiognomik
auf die Gesichtszüge ist erst Ergebnis des 18. Jh. - nicht also nur die Mimik, sondern
auch Gestik und Habitus gehören zum Erkenntnisbereich der Physiognomik. Die Anfänge der
Physiognomik im Dialog des Zophyros des Paidon von Elis hat Johannes Thomann 1992
herausgearbeitet.(2) Im Rahmen der frühen Neuzeit befragt nun die bildende Kunst die
physiognomischen Hinweise in kunsttheoretisch ausgerichteten Traktaten, um die Figuren
ihrer Bilder entsprechend auszustatten. Referenzpunkt ist dabei der Betrachter, weshalb
das Analysefeld ein wirkungsästhetisches ist. Auf ihn, den Betrachter hin wird die
Physiognomik in die Darstellungsweise der Bildfiguren eingeschrieben, auf die Lesbarkeit
durch den Rezipienten. Lesbarkeit allerdings nicht ausschließlich in begrifflich
geführter Erkenntnis, sondern in emotionalem Nachvollzug. Affekterregung im Betrachter
ist die vorrangige Aufgabe der Kunst um 1600. Die Kontrolle dieser Wirkungsästhetik der Kunst ist zentrales Anliegen der
katholischen Kirche, weil gerade hier die Reformation einen entscheidenden Kritikpunkt
festmachen konnte. Deshalb liegen im Anschluß an das Konzil zu Trient am Ende des 16.
Jahrhunderts eine Fülle von Traktaten vor, die die Sprache und Sprachfähigkeit der
bildenden Kunst genau zu erfassen und zu dechiffrieren suchen - und damit, zumindest dem
selbstgestellten Anspruch nach, für den Maler vorbuchstabieren. Alsa das
ausdruckstärkste Organ bildlicher Sprachfähigkeit fungiert dabei die Physiognomik. Im folgenden soll es mir anhand einer exemplarischen, thesenartig präsentierten
Analyse darum gegen, das Verhältnis von gestischer Physiognomik in textuell
überlieferten Quellen zu derjenigen in Kunstwerken zu bestimmen. Da es sich nicht um ein
bloßes Abbildungsverhältnis handelt, ist besondere Rücksicht auf die bildliche Sprache
zu legen. Sie ist ungemein schwerer zu erruieren, weil sie unserem begriffsgeleiteten
Erkennen fremd erscheint. Mithin scheint mir die Frage nach der Relation von Text und Bild
eine hermeneutische zu sein, und folglich muß methodisch ein Darstellungsverhältnis
angelegt werden, durch das das Bild und der Text aneinander zur Erscheinung kommen.
Gewählt sei von Annibale Carracci, von ihm ist auch die eingangs erwähnte Sentenz
überliefert, gewählt sei also die "Steinigung des Stephanus", um 1603 in Rom
entstanden. Damit haben wir als Analysefeld den Beginn des römischen Barock gewonnen, und zwar
temporär beschränkt auf die Zeit zwischen 1603, der Entstehung dieses Gemäldes, und dem
Jahr 1610, bis zu dem die Werkstatt des Künstlers und sein unmittelbares Umfeld vier
weitere Fassungen dieses Themas gefertigt haben werden. Wir konzenrieren uns dabei bewußt
auf Rom, weil diese Stadt im Übergang zum 17. Jahrhundert die Darstellung von Martyrien
maßgeblich gefördert und somit das zentrale Beispiel barocker Bildsprache, die
affektgeladene Inszenierung der Gestik, entscheidend entwickelt hat.
I. Bildanalysen: Annibale Carracci Stephanus ist der erste christliche Märtyrer. Sie sehen ihn hier dargestellt auf
einer Kupfertafel von Annibale Carracci(3) (1560-1609), eine kleinformatige Arbeit 1603
entstanden (die Maße betragen 42 x 54 cm), heute im Louvre befindlich. Die Bildfindung(4) Annibales zeichnet sich durch eine große Vielfalt in der
Behandlung der Protagonisten sowie einem selbstgestellten Kunstgriff(5) in der
Zusammenziehung von Martyrium und Vision aus. Vornehmlich im Rekurs auf die
Apostelgeschichte (Apg. 6,8-7,59) schildert Annibale Schau und Steinigung des
Protomärtyrers(6). Stephanus ist der erste unter den sieben Diakonen, die die Urgemeinde
in Jerusalem, nach Christi Himmelfahrt, zur Arbeitsentlastung der Apostel wählte. Er wird
als besonders Redebegabt von der Apostelgeschichte beschrieben; unter Zuhilfenahme
falscher Zeugen der Gotteslästerung angeklagt entwickelt er vor dem Synedrium die
längste der im Neuen Testament überlieferten Verteidigungsreden.(7)
Im unmittelbaren Anschluß an diese Rede - so die Apostelgeschichte in detaillierter
Schilderung des Verlaufs - ist Stephanus voll des Heiligen Geistes, schaut auf gen Himmel,
sieht die Herrlichkeit Gottes und Christus zur rechten Hand Gottes stehen (Apg. 7,55a),
verkündet dies schließlich dem Gericht mit den Worten: "ecce video caelos apertos
et Filium hominis a dextris stantem Dei" (Apg. 7,55b). Das Synedrium findet in dieser
Visionsschilderung den Tatbestand der Gotteslästerung bestätigt, denn einmütig wird
Stephanus vor die Stadt gejagt und dort gesteinigt (Apg. 7,57a-7,59). Annibale plaziert das Martyrium vor die Tore Jerusalems. Der Heilige wird von
Steinigern umringt, angeführt von Saulus. Schaulustige umstehen die Szene. Oben rechts
öffnen sich die Himmel, in der Vision erscheinen Christus und Gott. Der Märtyrer neigt seinen Kopf zu linken Seite, dreht ihn ein wenig nach hinten
über die Schulter, sodaß sein Gesicht im Profil dargestellt ist. Da die Kopfhaltung
zugleich den himmelwärts gerichteten Blick unterstützt, sind die Gesichtszüge nur in
leichter Untersicht zu sehen. Stephanus fixiert mit seinen Augen die Vision in der
diagonal gegenüberliegenden Bildecke. Die Intergration der Vision in die Darstellung des
Martyriums ist selbstgestellte difficoltà des Künstlers, denn nach Lage der
Quellen geht sie zeitlich der Steinigung voraus. Es wird später zu zeigen sein, inwieweit
die Gestik des Märtyrers durch die Bezugsetzung zur Vision konnotiert wird. (8) Indem Annibale den Protomärtyrer in kniender Haltung darstellt, entscheidet er
sich für einen bestimmten Moment im Vollzug der Steinigung. Die Apostelgeschichte
unterscheidet zwei Stadien des Martyriums. Zunächst wird geschildert, wie Stephanus im
Akt der Steinigung ein Bittgebet für sich spricht (Apg. 7,58). Daß er dabei in stehender
Haltung gemeint sei, wird von der Fortführung der Steinigung ersichtlich: Die
Apostelgeschichte merkt ausdrücklich an, daß Stephanus niederkniet ["positis autem
genibus" (Apg. 7,59a)], um mit diesem habitus das Bittgebet für seine
Peiniger auszurufen (Apg. 7,59a), bevor er entschläft (Apg. 7,59b). Der gestische Ablauf im Bild rekurriert also in der detaillierten Überlieferung
durch die Apostelgeschichte. Die Legenda Aurea, eine Sammlung von Heiligenlegenden,
im ausgehenden 13. Jahrhundert von Jacobus de Voragine verfaßt und bis in die frühe
Neuzeit hinein neben der Bibel die wichtigste Quellengrundlage für die Gattung der
religiösen Historienmalerei, die Legenda Aurea also kommentiert den von der
Apostelgeschichte bezeugten Bewegungsablauf: "Und sehet die erstaunliche Liebe an:
Als er für sich betete, stand er, als er aber für seine Steiniger betete, beugte er das
Knie, so als begehrte er, daß eher das Gebet für die anderen als das für sich erhört
werde." Annibale betont also, so muß in Anbetracht des Bildes konstatiert werden, den
zweiten Teil des Martyriums. Der gestus der gefalteten und vor der Brust zur Vision
emporgerichteten Hände unterstreicht somit für den kundigen Betrachter die bis in das
für die Peiniger gehaltene Bittgebet hinein vollzogene Imitatio Christi des Märtyrers. I.2. Umkreis Mit dem vergleichenden Verfahren, das die Philosophie unter dem Rubrum
'Darstellungsverhältnis'(9) führt, müssen sich die
gestischen Spezifika der Bildfindung Annibales in gestus, vultus und habitus erschließen
lassen. Insofern sie nämlich nur partiell quellengeschichtlich zu belegen sind, können
sie nur jeweils an einem anderen erscheinen, das nicht sie selbst sind. Um die je einzelne
Bildfindung sowohl in ihrer wirkungsästhetischen Struktur als auch ihrem theologischen
Dekorum ermessen zu können, seien im folgenden als Vergleichsbeispiele vier
Stephanusmartyrien und eine zugehörige Skizze herangezogen, die, zwischen 1603 und 1610
in Rom entstanden, in unmittelbaren Umkreis um Annibales Kupferfassung stehen.
Annibale (Werkstatt): Leinwandfassung Mit der Leinwandfassung der Steinigung des Stephanus(10) formuliert Annibale, wohl
in der Ausführung durch seine Werkstatt, eine zweite Bildfindung des Martyriums (heute
ebenfalls im Louvre befindlich). Für dieses Stephanusmartyrium wählt Annibale sowohl für die Gesamtstruktur des
Bildes als auch in gestus und habitus der Hauptprotagonisten neue
Darstellungsmodi. Das Format wird um ein Viertel vergrößert (auf nunmehr 51 x 67,5 cm),
reziprok dazu die Personengröße jedoch entschieden verkleinert. Stephanus ist nicht im Bittgebet gezeigt, sondern öffnet seine Arme der Vision
entgegen. Er kniet auf beiden Beinen, die ehemals differenzierte Ausrichtung der
Körpervektoren ist deutlich zurückgenommen. Diese Umgestaltung der Gestik überrascht um
so mehr, als die Gesamtanlage des Bildes grundsätzlich abhängig von der Kupferfassung
ist. Adaptiert wurde die Anordnung und Ausgestaltung einzelner Steiniger. Auch die
Betrachterfiguren sowie die Vision sind der Kupferarbeit entlehnt. Allerdings, auch die
Unterschiede sind deutlich. So hat zum Beispiel Saulus seine Gestik verändern müssen.
Sie ist entlehnt einer Zeichnung von Annibale, die als die Keimzelle seiner
Stephanusikonographie gelten muß.
Annibale: Windsor-Skizze Dieses Blatt in Windsor besitzt, dem Duktus der an pentimenti reichen Ausführung
nach zu urteilen, das Stadium eine Skizze (Abb...).(11) Die Autorenschaft Annibales(12)
ist unumstritten, die Datierung kontrovers, aber m. E. mit 1603 oder etwas früher
anzusetzen. Sie besitzt eine vergleichbare bühnenartige Komposition wie die Kupferfassung.
Stephanus liegt mit angewinkelten Beinen auf der rechten Körperseite, der Kopf fällt,
nach hinten gedreht, auf seine rechte Schulter, der linke Arm liegt schlaff auf dem
Oberkörper. Das Martyrium ist beendet, drei Soldaten ziehen durch das Tor in die Stadt
zurück. Die rechte Gruppe der Klagenden beugt sich zu Stephanus herunter. Von ihnen ist
eine - im betonten Gegensatz zu dem leblosen Märtyrer - in hoher Affektion dargestellt.
Die Anordnung des narrativen Kontrasts wird auch in der Kupfer- sowie der Leinwandfassung
das dramatische Element der Steinigungsszene bleiben. Neben dieser Zeichnung, der ersten Idee zur Stephanusikonographie, besitzen wir
drei weitere Stephanussteinigungen aus dem unmittelbaren Umfeld um Annibale. Der Künstler
war in seiner zweiten römischen Periode gezwungen, eine große Werkstatt zu führen, um
die Aufträge bewältigen zu können. Als Mitarbeiter waren ihr neben anderen zugehörig
Domenichino und Antonio Carracci, Annibales Neffe. Als Malerkollege sei hier Adam
Elsheimer zusätzlich hinzugenommen, weil die wechselseitige Wahrnehmung zwischen ihm und
Annibale bereist von zeitgenössischen Quellen betont wird.
Domenichino Zwischen 1605 bis 1607/08(13) zu datieren, also während seines ersten römischen
Aufenthalts als Mitarbeiter Annibales, hat Domenichino mit diesem Gemälde eine eigene invenzione
des Stephanusmartyriums(14) (Abb....) geliefert. Gemalt auf einer Kupferplatte mit den
Maßen 55 x 60 cm, besitzt das in Chantilly aufbewahrte Gemälde annähernd die Größe
von Annibales Leinwandfassung. Von der Datierung später als Annibales Kupferarbeit
gefertigt, greift sie auf die dort figurierte Architekturszenerie sowie den gestus
des Saulus zurück, rezipiert im habitus den Stephanus und die Betrachterfiguren
der Windsorskizze, verweigert sich dadurch, was zu zeigen sein wird, dem Rekurs auf die
narrative Ebene der Apostelgeschichte. Domenichino greift in habitus und gestus des Märtyrers die
Windsor-Zeichnung Annibales zur 'Totenklage um Stephanus' (Abb.3) auf. Wenngleich Annibale
dort den toten Diakon in gänzlich liegender Haltung konzipiert hat, so wird die
Grundanlage der Figur von Domenichino übernommen: das sind die angewinkelten Beine, die
seitliche Körperlage, der in den Nacken gefallene Kopf, der ausgestemmte und der über
den Unterleib gelegte Arm. Zudem hat Domenichino den Stephanus ebenfalls in der linken
vorderen Bildecke verortet und nach links ausgerichtet, wie von Annibale in der
Windsorskizze und der Kupferfassung vorgeprägt. Stephanus starrt, von einer gezirkelten Glorie umgeben, mit verdrehten Augen
himmelwärts. Da die Augen fast gänzlich aus dem hochgedrehten Weiß des Augapfels
bestehen, fixieren sie nicht die Vision. Sie liegt außerhalb der vermeintlichen
Blickachse und scheint mithin als exstatische Innenschau erfahren zu werden. Domenichinos sowie Annibales Bildfindungen offerieren Differenzen im
wirkungsästhetischen Kalkül. Ihre Semantik sei später analysiert; festzuhalten bleibt
hier, daß Domenichino weder in gestus noch habitus ein Verweis auf die
Apostelgeschichte immanent ist. Die Elemente hoher Narration, die in der Quelle durch die
Abfolge der zwei Bittgebete dargelegt werden, finden in der Bildsprache Domenichinos kein
Äquivalent.
Antonio Carracci: 'Martyrdom of Saint Stephen' Antonio Carracci (1589-1618), ab 1602 Mitarbeiter bei Annibale in Rom, fertigt eine
auf 1610 zu datierende Fassung der Stephanussteinigung an (Abb....). Sie ist die späteste
der hier behandelten Gemälde, und erst ein Jahr nach Annibales Tod ausgeführt (und heute
in London aufbewahrt(15)). Antonio übernimmt für die Stephanusgestalt die von
Domenichino entwickelte Gebärdensprache. Allerdings integriert er sie unter
weitestgehender Reduzierung des Personals in eine Neuformulierung der Bildstruktur. (16) Stephanus wird leicht nach rechts aus der Bildmitte herausgerückt. Sein
'himmelnder Blick' fällt unmittelbar in die linke obere Bildecke. Hier im vultus
also identisch mit Domenichino, so ist die Platzierung der Vision in eben die linke obere
Ecke eine eigenständige Formulierung Antonios. Die Vision liegt damit direkt in der
Blickachse des Märtyrers. Gegenüber der invenzione Domenichinos wird dadurch die
narrative Wahrscheinlichkeit und ihre bilddiagonale Anordnung zurückgewonnen, respektive
einer Umdeutung unterzogen. Sie ist nun, wie bei Annibale vorgeprägt, externe bildliche
Erscheinung, die auch bildlich rezipiert wird.
Adam Elsheimer Eine fünfte invenzione des Stephanusmartyriums ist durch Adam Elsheimer
(1578-1610) entwickelt worden.(17) Sie ist von Elsheimer auf eine versilberte Kupfertafel
mit den Maßen 34,7 x 28,6 cm gemalt worden, um 1604 zu datieren.(18) Die Darstellung
versammelt, obwohl es die kleinste der hier besprochenen Arbeiten ist, eine vielzählige
Zuschauermenge um das Martyrium, die geöffneten Himmel offenbaren die gesamten
Heerscharen Gottes. Die Evidenz eines großformatigen Historiengemäldes scheint bewußt
gesucht zu sein, und mittels eines präzisen wirkungsästhetischen Kalküls in Lichtregie
und Farbgebung büßt es trotz der dichtgedrängten Form nicht an Intensität ein.(19) Stephanus kniet vorne rechts auf beiden Knien, sein Oberkörper ist nur unmerklich
aus dem Profil gedreht, sein Kopf bildparallel gezeigt. Die Augen blicken aufwärts zu den
vor ihm stehenden Reitern, dabei in Kontrast zu seiner Kopfhaltung gesetzt, der der
erhobenen Blickrichtung nicht folgt. Der Oberkörper scheint im Begriff zu sein, vornüber
zu sinken. Die Arme hängen - nur andeutungsweise angewinkelt - schlaff herab, die Hände
völlig kraftlos. Diese gegenüber Annibale eigenständige Formulierung der
wirkungsästhetischen Physiogomie wird unterstützt durch die alludierte Imitatio Christi:
die Kreuztragung Christi ist der Dalmatika des Märtyrers eingestickt.(20)
II. Typengeschichte des Stephanusmartyriums Die vier vorgestellten Bildbeispiele einer Stephanussteinigung, alle im
unmittelbaren Werkstattzusammenhang in Rom zwischen 1603 und 1610 entstanden, dürften
deutlich gemacht haben, daß die Frage nach der Gestik in Text und Bild von
kunsthistorischer Seite Probleme der Sukzession aufwirft. Denn der Quellenlage nach
basieren sie alle auf der Schilderung der Apostelgeschichte. Die dort vorgelegten
gestischen Beschreibungen habe ich referiert: schlüssig lassen sie sich allein auf die
Kupferfassung von Annibale Carracci beziehen. Die anderen Darstellungsvarianten sind mit
ihr nicht zu erfassen. Vielleicht muß auch die unmittelbare Erklärung von Gesten in den bildenden
Künsten als unzulässig gelten, solange das Medium der Artikulation selbst nicht
beachtet, hier also in seiner visuellen Strategie erstgenommen wird. Für unsere Frage ergeben sich daraus drei Analyseschritte. Im Folgenden wird
zunächst die rein visuell gelagerte Geschichte der Gestik herangezogen. Dann gilt es die
kunsttheoretische Traktatliteratur nach Bedeutungsvarianten für die Gestik zu befragen,
um schließlich die Ergebnisse mithilfe des theologischen Dekorums gegenzulesen. Die bildlich überlieferte Geschichte der Gestik ist Erkenntnisgegenstand der
Ikonographie. Bezogen auf einzelne Sujets, in unserem Falle die Stephanussteinigung, ist
dabei genauer von einer Typengeschichte zu sprechen. Sie trägt dem Umstand Rechnung, daß
künstlerische Produktion sich gegenseitig rezipiert, mithin in einer Sukzession steht.
Für die frühe Neuzeit des Abendlandes kann es sich dabei natürlich nur um eine
partielle Nachfolge handeln. Dennoch ist es lohnenswert, diese Genese zurückzuverfolgen,
denn sie kann als Korrektiv herangezogen werden bei der Beurteilung der einzelnen invenzione:
Die Innovation eines Werks tritt in historischer Betrachtung erst im Verhältnis zu
anderen Werken in Erscheinung. Obgleich die Geschichte der Stephanussteinigung noch nicht geschrieben ist, sei
hier dennoch ein erster Überblick skizziert, um das bildliche Potential der Gestensprache
unserer Bilder zu bestimmen. Für Annibale Kupferfassung haben wir eingangs konstatiert, daß über die
Quellenlage hinausgehend die Gebetsgeste des Heiligen auf die Vision bezogen wird. Ist die
Vision ursprünglich Bestandteil des Verhörs vor dem Synedrium, also zeitlich und
geographisch verlagert, so zieht Annibale sie simultan mit der Steinigung in einem
einzigen Bild zusammen: topische Fähigkeit der Malerei im Unterschied zur Dichtung.
Dennoch müssen wir die Innovation des Künstlers relativieren, denn mithilfe der
Typengeschichte läßt sich zeigen, daß bereits die früheste überlieferte Darstellung
des Stephanusmartyriums diese Ineinssetzung von Vision und Steinigung geleistet, d. h die
Geste des Heiligen mit der göttlichen Erscheinung korreliert hat. Die Darstellung, die Sie hier sehen, stammt aus der sogenannten "Christlichen
Topographie" des Cosmas Indicopleustes. Es ist eine der Gattung der antiken
Weltchronik vergleichbare Textsammlung, die die ersten uns greifbaren Szenen zur
Apostelgeschichte enthält.(21) Die getreueste Wiedergabe der um 547 bis 549 verfaßten
Vorlage sieht die Forschung in einer in Florenz aufbewahrten Handschrift.(22) Auf fol.
170v (Abb....) wird dort die Steinigung des Stephanus in dem für das Abendland
vorbildlich gewordenen sogenannten 'byzantinischen Typus'(23) illustriert: In einer
hügeligen Landschaft kniet Stephanus in der rechten Bildhälfte. Hinter ihm stehen zwei
wurfbereite Steiniger, die wiederum von dem hinter ihnen sitzenden Saulus dirigiert
werden. In seiner gereihten Ausrichtung ist das ikonographische Gerüst konstitutiv für
den byzantinischen Typus. Auffällig ist allen Illustrationen der gestus und habitus
des Märtyrers gemeinsam. Er wird zum rechten Bildrand ausgerichtet; seine Hände, auch
das ist verbindliche Ikonographie, werden mit der Vision entgegen erhobenen, geöffneten
Handflächen gezeigt. Der Kopf - und soweit die Erhaltungszustände der Handschriften hier
entsprechende Aussagen zulassen - auch die Augen sind jeweils zur Vision emporgerichtet. Die Übernahme dieses "byzantinischen Typus" durch das Abendland wird von
Kodizes geleistet, die in Verona zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstehen. Der erste von
ihnen ist wohl der sogenannte Giustiniani-Kodex(24), der auf fol. 127r (Abb.13) das
Stephanusmartyrium illustriert. Die genaue Rezeptionsgeschichte, komplexer als hier zu referieren, habe ich an
anderem Ort herausgearbeitet. Für unsere Frage nach der bildlichen Gestaltung der Gestik
mag hinreichend sein sich auf den geographische Umraum zu konzentrieren, in dem Annibale
Carracci seine Stephanussteinigung geschaffen hat. In Rom bündelt die Freskierung der Sancta Sanctorum (Abb.17), wohl nach 1278/79
entstanden, die Überlieferung des byzantinischen Typus.(25) Allerdings: Die personale
Vision ist ein Produkt des Westreichs. Signifikant auch der gestus des Stephanus:
seine Hände öffnen sich nicht mehr der Vision entgegen, sondern sind zum Gebet
aufeinandergelegt. Die Anzahl der Steiniger ist beträchtlich gewachsen, eine wohl bereits
in dem römischen Pauluszyklus von San Paolo fuori le mura (Abb....) angelegte
Modifikation. Das 1823 durch Brand zerstörte Stephanusmartyrium in S. Paolo f.l.m.(26) (Abb.18),
das mit der Verhörszene und der Grablegung des Märtyrers den an der linken
Hochschiffwand befindlichen Pauluszyklus eröffnet, ist zuletzt von Jens Wollesen(27) als
Vorlage für Sancta Sanctorum ausgewiesen worden. Ist die dabei notwendige Szeneninversion
auch kein Gegenargument, so legt die oben vorgelegte ikonographische Genese des
Stephanusmartyriums aus byzantinischen Wurzeln nahe, daß das lateranensische Fresko durch
Vermittlung der Buchmalerei auf dem byzantinischen Typus rekurriert, mitnichten also nur
auf einer vage als "frühchristlicher Typus"(28) zu charakterisierenden
Tradition beruht. So umstritten die Datierung der ostiensischen Fresken auch ist, der
Gebetsgestus des Stephanus orientiert sich an der byzantinischen Formulierung. Da jedoch
die Anordnung der Steiniger nicht dem byzantinischen Typus entspricht, hat Luba Eleen die
Fragestellung aufgeworfen, ob in S. Paolo f.l.m. nicht ein Parallel-Typus zu Byzanz
gesehen werden muß.(29) Eine ähnliche, in die ersten Jahrhunderte legende Datierung der
Fresken hat Rainer Warland vorgeschlagen, indem er die Vision des Stephanus als
'frühchristliche Theophanieszene'(30) zu identifizieren suchte. Daß diese Vision
ungewöhnlicherweise auf der linken Seite dargestellt wird, beruht, so Warland, auf der
Leserichtung, die vom Triumphbogen zur Eingangswand verläuft.(31) Die Grabkirche des Stephanus in Rom, San Lorenzo fuori le mura, besitzt im Portikus
einen um 1295 zu datierenden Freskenzyklus ihrer beiden Heiligen.(32) Die linke Seite der
Eingangswand ist mit der Vita des Stephanus freskiert, und zeigt in der zweiten Szene das
Martyrium des Heiligen(33) (Abb...). Auffällig ist das ikonographische Gerüst der Szene
von der in Sancta Sanctorum und S. Paolo f.l.m. unterschieden: Stephanus kniet mittig,
rechts und links umstellt von den Steinigern und Saulus, eine verschränkte Anordnung der
Figuren. Wir besitzen also bereits am Ende des 13. Jahrhunderts in Rom Beispiele eines
Stephanus genuflex, z.Tl. mit zum Gebet zusammengelegten Händen, der Vision
entgegengestreckt. Die byzantinische Herkunft der Verbindung von Vision und Geste ist
genannt worden. Die Haltung der Gebetsgebärde, die die Hände aufeinander legt,
Entwicklung des abendländischen Dugento. Die Ikonographie des 14. und 15. Jahrhunderts orientiert sichweiterhin an der
ursprünglich byzantinischen Bildfindung, die jedoch jetzt fester Bestandteil der
italienischen Kunstproduktion geworden ist und damit Modifikationen zugänglich.
Insbesondere wird die verschränkte Darstellunganordnung von dem Fresko in San Lorenzo
fouri le mura einer immer stärkeren Rezeption unterzogen. Ein Beispiel unter vielen:
Filippo Lippi um 1460 im Dom von Prato.(34) Hier wird zudem bei Stephanus die Gebetgeste
der nun zumeist gefalteten Hände aufgebrochen und der Habitus in die Hinwendung zur
Vision mit einbezogen. Entscheidende Neuerungen zugunsten hoher Narrativität erhält die
Stephanusikonographie durch die Arbeiten Raffaels. Mit den Forderungen der varietà
werden in gestus und habitus des Märtyrers und der Steiniger vielfache
Differenzierungen vorgenommen. Zunächst in einer Skizze von 1512(35), dann in der 1515/17
entwickelten Teppichserie für die Sixtinische Kapelle(36) (Abb.27) formuliert Raffael
eine gänzlich neue Bildfindung, die maßgeblich für die weitere Stephanusikonographie
werden sollte. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß erstmals die von der Apostelgeschichte
explizit geschilderte Vision auch ausformulierter Bestandteil der Stephanusdarstellung
wird: In der rechten oberen Ecke des Teppichs geben die von Engeln beiseitegeschobenen
Wolken den Blick frei auf Christus sowie, und das ist die entscheidende Neuerung, auf
Gott. Der somit explizit als der erhöhte Menschensohn ausgewiesene Christus wendet sich
dabei, wie bei Filippo Lippi vorgeprägt, mit geöffneten Armen seinem Märtyrer zu,
während Gott mit segnender Hand hinter ihm erscheint. Stephanus selbst ist in hoher Affektion geschildert: mit aufgerissenem Mund blickt
er himmelwärts zur Vision. Er scheint dabei im Begriff zu sein, unter der Last der Steine
auch auf sein rechtes Knie niederzusinken, denn mit der linken Hand ist er genötigt, sich
auf dem Boden abzustützen. Die Rechte dagegen öffnet sich zur Vision; diese vollzieht
damit einen dem physischen Ablauf des Steinigens nicht wahrscheinlichen gestus,
sondern verkörpert die dem Leiden souverän enthobene innere Haltung des Märtyrers. Sein
Wille zur Passion, so deutet die komplementäre Gestik den affetto misto an,
unterliegt nicht dem Akt des Sterbens. Diese widerläufige Gestik ist nicht Bestandteil der Quellenlage. Ihr Modus wird
jedoch unmittelbar rezipiert werden in den weiteren Stepahnussteinigungen nach Raffael,
bis hin zu Annibale und Domenichino! III. Traktate Die visuelle Dependenz der Gestik ist damit in aller Kürze umrissen. Für ihre je
einzelne begrifflich gelagerte Semantik ist damit aber, soweit ich sehe, nur wenig
geleistet! In einem dritten Schritt soll nun der Versuch unternommen werden, die Gestik
mithilfe der Traktatliteratur inhaltlich zu füllen. Gemeinsames Postulat der Traktate
nach dem Konzil von Trient ist die Definition der wirkungsästhetischen Strategie des
Kunstwerks vermöge seines psychagogischen Potentials. Die persuasio des
Betrachters ist Ziel und zugleich Legitimation religiöser Kunst, d.h hier der
Historienmalerei katholischer Provenienz. Die Neubewertung und Legalisierung des
rhetorischen movere ist Resultat einer erneuten Rezeption antiker Redekunst und Poetik
sowie Ergebnis papal autorisierter Kunstdefinition. Allerdings: Die konkrete Ausgestaltung der Bildsprache, ihre je bildliche
Inszenierung, ist wesentlich unpräziser erfaßt. Eine Sonderstellung, und für uns um so
aufschlußreicher, nimmt dabei jedoch die Physiognomik ein. Denn ihre wirkungsästhetische
Rolle war bereits aus der antiken Rhetorik zu erruieren. Bezogen auf die stumme Sprache
des Kunstwerks, galt es nun die inneren Seelenregungen durch äußerliche
Körperbewegungen sichtbar zu machen. Damit eröffnet also die physiognomische
Charakterisierung der Bildprotagonisten in Gestik, Mimik und Habitus dem Betrachter, das
Bildgeschehen nicht nur intellektual zu lesen, sondern vielmehr emotional zu rezipieren. Die herausragende Stellung der Physiognomik als Artikulationsorgan der Bildsprache
gibt die Grundlage, bildkünstlerische Gestik korrelieren zu können mit der textlichen
der Traktatliteratur. Die Beispiele, die ich dazu heranziehen möchte, sind zum einen
Bestandteil des Tridentinums, zum anderen aber auch aus der frühen Kunsttheorie und
späteren französischen Akademiediskussion. Dieser breite Zugriff ist nicht willkürlich
gewählt, sondern zwei Umständen geschuldet. Zum einen gereift die Kunsttheorie des
Seicento auf Kunstwerke des vorangegangenen Jahrhunderts zurück. Zum anderen versucht
dieser Ansatz die fehlende Systematik der Traktate im Cinquecento auszugleichen.
Arbeitshypothese, das hat Rudolf Preimesberger gezeigt, muß eine
"Bedeutungskonstanz"(37) sein. Evidenzen sind hier hinreichend, denn die direkte
Rezeptionsgeschichte der Traktatliteratur ist für Annibale Carracci nicht zu
rekonstruieren.(38) Gemeinsam ist den Stephanusmartyrien von Annibale und Antonio Carracci der
'himmelnde Blick' des Heiligen. Wahrscheinlich gemacht durch den narrativen Ablauf der in
der Quellenlage geschilderten Verhörszene vor dem Synedrium (Stephanus blickt am Ende der
Verteidigungsrede zum Himmel(39) hinauf), sind die nach oben gerichteten Augen
konstitutiver Bestandteil der Steinigungsszene. Cesare Ripa schließlich sollte 1603 in
seiner Iconologia für alle Martyriumsszenen die generelle Forderung erheben, daß
die Mimik "con l'occhi rivolti al cielo"(40) dazustellen sei. Oder Charles Le
Brun kodifiziert in seiner Akademierede von 1668 die Verzückung ob göttlicher
Offenbarung – "Le ravissement" - in eben diesem himmelnden Blick (hier in
einem seitenverkehrten Stich von Bernard Picart aus dem Amsterdamer Ausgabe von 1702;
Abb......). So kann auch Bellori, im Rahmen der Vecchiarella-Anekdote, Domenichinos Figur
des Heiligen Andreas gerade aufgrund der Tatsache loben, daß dieser "rivolte le luci
e lo spirito al cielo."(41) Dadurch werde nämlich angezeigt, der Märtyrer sei
"colmo di speranza e di grazia divina"(42). Die 'himmelnden Blicke' lassen sich
in ihrer Bedeutungsreferenz durch Le Bruns Akademierede von 1668 weiter zuspitzen. Die die
Erkenntnisfähigkeit der Seele übersteigende Offenbarung des Göttlichen, so argumentiert
der königliche Hofmaler, erhöhe den Affekt der Bewunderung zu dem der Verzückung.(43)
'Le Ravissement' eignet dabei der mimische Hinweis, "les sourcils [sera] élevé en
haut, e la prunelle sera de meme"(44). Der Kopf, so die weitergehende Forderung zur
Körperbewegung "sera penchée du côte du coeur", dadurch scheint er nämlich
"marquer l'abaissement de l'ame e son incapacité"(45). Mimik und Kopfhaltung im
Referat Le Bruns entsprechen also, das bleibt zu konstatieren, der Darstellung des
Stephanus in Annibales Kupfer- und Leinwandfassung(46) wie auch der in Windsor
aufbewahrten Zeichnung eines Niobidenkopfes(47). Die Geschichte des himmelnden Blicks als Vision, Inspiration und Anbetung wurde von
Gregor Weber und mir im letzten Winter in der Gemäldegalerie Dresden herausgearbeitet.(48) Es genügt hier die Feststellung, daß die zum Himmel
erhobenen Augen des Stephanus das grundlegende theologische Dekorum dieser Figur
ausmachen, nämlich der vollgültigen Imitatio Christi. Dabei kann mithilfe der Gestik
diese allgemeine Bildaussage präzisiert werden. Nocheinmal also zu Annibales Kupferfassung (Abb.1). Lomazzo ordnet im zweiten Buch
seines Trattato dell' arte della pittura, scoltura et architettura (Mailand
1584), das die einzelnen Gemütszustände zu klassifizieren sucht, den Heiligen Stephanus
unter das Rubrum 'costanza'(49): Standhaftigkeit zeige sich in Figuren, die sich nicht den
Zielen der Peinigern beugen, sondern dem eigenen Gedanken folgen. Wie Hiob, Katharina und
alle anderen "invitte vergini e martiri"(50), sei eben auch Stephanus ein
Beispiel "di Costanza maravilgliosa e singolare"(51). Die Bewegungangaben, mit
denen Lomazzo den Affekt dargestellt wissen will, sind "forte, stabili e
fermi"(52). In ihren eher literarischen als visuellen Charakteristika sind diese
Hinweise zu unpräzis, als daß sie konkret nachvollziehbare Spuren in der Kunstproduktion
hinterlassen haben könnten. In unserem Zusammenhang weiterführender scheinen die Angaben
zu sein, die Lomazzo bezüglich des 'dolore'(53) gibt. Stephanus wird in dieser
Affektkategorie ebenfalls als historische Beispielfigur erwähnt, künstlerisches Vorbild
ist neben anderen die Laokoongruppe.(54) Weil aber die darzustellende Körperhaltung der
jeweils zu erleidenden Qual entsprechen muß, sind, so Lomazzos Forderung, auch die moti
der Stephanusfigur zu modifizieren. Einen Katalog möglicher Darstellungsarten von Gestik
und Mimik stellt Lomazzo zwar auf, jedoch nur allgemein für 'dolore', nicht aber
spezifisch auf Stephanus bezogen.(55) Domenichino (Abb.4) und, von ihm abhängig, Antonio Carracci (Abb.5) scheinen
dagegen in ihrer Stephanusfigur den Angaben zu folgen, die Lomazzo bezüglich des
Sterbenden oder Toten gibt. Der 'morte', so listet Lomazzo für die mimische Physiognomie
auf, "fa alzar gl'occhi in alto, sí che s'asconde mezzo il nero dell'occhio per
disopra, et apri la bocca"(56). Wurde eingangs der verdrehte Blick des Märtyrers als
Ausdruck innerer Vision gewertet, so ist im Rekurs auf Lomazzo die Variante hinzuzufügen,
daß es sich bei den hochgedrehten Augen und halbverdeckten Pupillen sowie dem leicht
geöffneten Mund um die Mimik eines Sterbenden handle. Anders als in der Nachfolgearbeit
von Antonio Carracci durchgeführt, hätte Domenichino mit dem extrem nach hinten ins
Genick fallenden Kopf des Märtyrers die Kategorie des 'morte' in aller Anschaulichkeit
wahrscheinlich gemacht. Der vultus bei Antonio Carracci dagegen läßt sich als
externe Visionserfahrung begreifen, da die geöffneten Himmel, wie oben bereits
ausgeführt, in die Blickachse des Heiligen gerückt sind. Die Mimik des von Elsheimer dargestellten Stephanus (Abb...) scheint weder
Verzückung noch Tod ausdrücken zu wollen, sondern die dem Ereignis nicht
unwahrscheinlichen physischen Qualen. Mit Le Bruns Abhandlung lassen sich dabei nicht nur
die nach oben gewendeten Augen herleiten, sondern gerade der weit geöffnete Mund ist
sicherer Indikator für eine Zuordnung zum 'douleur corporelle'(57). Die Gestik
unterstützt diese Lesart, drücken nach John Bulwers Chirologia von 1644 schlaff
herabhängende Arme und Hände Verzweiflung(58) aus. Ebenso schreibt Leonardo dem
Künstler den von der herabziehenden Schwerkraft geprägten habitus als Zustand der
Verzweiflung vor.(59) Elsheimer zentriert also, so die naheliegende Konjektur, seine Stephanussteinigung
auf die physischen Aspekte des Martyriums. Der Referenzrahmen ist Qual und Verzweiflung,
wohl unmittelbar vor dem Moment der offenbarten Erlösung zu lesen. Folglich ist die mit
der eigenen Inkarnation bezeugte Imitatio Christi nicht nur narrativ in dem blutigen
Verlauf der Steinigung geschildert, nicht nur allusiv mit der Kreuztragung Christi auf die
Dalmatika eingestickt, sondern auch, das sei hier betont, Bildsprache der mimischen und
gestischen Physiognomie des Märtyrers. Die Gestik, die Domenichino und Antonio Carracci der Stephanusfigur beigegeben
haben, formuliert gekonnt einen affetto misto. Der halb liegende, auf den rechten
Arm aufgestützte habitus übernimmt die Angaben, die Leonardo für die Besiegten und
Geschlagenen einer Schlacht gibt. (60) Domenichino weicht allerding in einem spezifischen
Bestandteil der Geste von Leonardos Vorgabe ab, derzufolge nämlich der freie Arm zur
Abwehr erhoben sein müßte. Abwehr aber, das scheint Domenichino ausdrücken zu wollen,
ist dem Martyriumsgedanken nicht innewohnend. Gerade weil der linke Arm des Stephanus auf
dem Unterleib ruht und keinen Versuch einer Verteidungung macht, wird das Martyrium
bejaht. Ein affetto misto insofern, als daß die Figur im habitus die Qual der
Steinigung, im vultus den Vollzug des Sterbens darstellt, ihre im gestus
ausgedrückte Seelenhaltung aber auf die dem Martyrium immanente Kraft der Erlösung
gerichtet ist. Die eschatologische Dimension des Martyriums scheint auch Annibale in seiner
Kupferfassung (Abb.1) akzentuiert zu haben. Denn die Verzückung durch göttliche
Offenbarung, so war oben die mimische Physiognomie zu lesen, korrespondiert mit dem gestus
der Figur. Unschwer als Gebetshaltung(61) zu bestimmen, gibt der habitus dabei den
Referenzrahmen des Gebets vor. Die Haltung 'genuflex', bereits in mittelalterlichen
Ordensregeln einer ausführlichen Kodifizierung(62) unterzogen, bezeichnet nach dem
Kommentar der Legenda aurea(63) das höherwertige Gebet gegenüber dem in stehender
Haltung vollzogenen. Annibale wahrt also das historische Dekorum, wenn er Stephanus in
kniender Gebetshaltung zeigt; nach Lage der Quellen das Bittgebet für seine Peiniger,
nach Sichtung der Denkmäler Bestandteil des byzantinischen Typus(64). Dennoch betont
Annibale ebenfalls die Verzückung, die Stephanus durch die Vision erfährt. Nicht nur die
Mimik verkörpert dies, sondern auch die Gestik. Denn Annibale folgt im habitus dem
bereits von Leonardo beobachteten motorischen Bewegungsablauf, der sich bei dem Menschen
zeigt, vor den der Gegenstand der Aufmerksamkeit sowohl von außen als auch überraschend
tritt. Denn dann wird er zuerst dem Objekt das wichtigste Sinnesorgan zuwenden
("all'obbietto il senso piu necessario"(65)), nämlich das Auge; dagegen
"lasciando stare li piedi al primo logo, et solo move le coscie insieme co'fianchi et
i gionocchi verso quella parte, dove si volta l'occhio"(66). Annibales Auffächerung
der Körperglieder seines Heiligen in verschiedene Richtungsvektoren, gestuft zwischen
Augen, Kopf, Oberkörper und Beinen, verkörpert leonardeske Empirie. Somit ist die Figur
des Stephanus im affetto misto gegeben, denn ihr ist sowohl die Verzückung ob
göttlicher Offenbarung als auch das willentlich geleistete Bittgebet für die Schergen
inhärent. Sie steht damit in Kontrast zur Stephanusgestalt der Leinwandfassung (Abb.2).
Denn in letzterer, das wurde oben gezeigt, indiziert die mimische Physiognomie zwar
ebenfalls 'le ravissement', der Gestus eröffnet aber keinen zweiten Affekt, sondern ist
identisch mit dem vultus. Die dem Objekt der Vision zugewendeten offenen Handflächen
wiederholen das 'admirare'(67). Für die Gestik des Saulus, die Wurfbewegungen der Schergen, die Offenbarung der
Vision lassen sich ebenfalls inhaltliche Korrespondenzen zur Traktatliteratur aufzeigen.
Sie muß hier übersprungen werden. Exemplarisch konnte gezeigt werden, daß die
Verrechnung der Stephanusmartyrien mit gestischen Angaben der Traktatliteratur nicht nur
die Interdependenz beider aufzuzeigen vermag, sondern auch die präzise Konnotation der
einzelnen Gesten. Die veranschlagte Kohärenz muß sich abschließend untermauern lassen
durch die Parallelität des wirkungsästhetischen Kalküls mit dem dem Stephanusmartyrium
als Historienbild innewohnenden theologischen Dekorum. IV. Theologisches Dekorum Das theologische Dekorum des Stephanusmartyriums besitzt zwei Referenzpunkte, die
in den analysierten pikturalen Umsetzungen verbunden werden: Martyrium und Vision.
Bestandteil schon der frühchristlichen Ikonographie, das konnte oben besonders für den
byzantinischen Typus gezeigt werden, ist diese Verknüpfung der in der Quellenlage
sukzessiv verlaufenden Ereignisse dennoch eine immer wieder selbstgestellte difficoltà. Die Lebenshingabe des Märtyrers erfährt in der Diskussion der Kirchenväter einen
komplexen Referenzrahmen, der die Grundlage der Heiligenverehrung bilden wird. Sie ist
zuallererst Imitatio Christi (Mk. 8,34) Es ist dann Ergebnis patristischer Exegese, derzufolge der Märtyrer nicht nur sich
selbst aller Sünden zu reinigen in der Lage ist, sondern als Fürsprecher am himmlischen
Thron fungieren kann. Indem nämlich bereits Mitte des dritten Jahrhunderts der
Märtyrerstatus per definitionem an den erlittenen Tod(68) geknüpft war, konnte das
Martyrium als zweite Taufe gesehen werden.(69) Beide Seiten des Christuskerygma werden
also vom Martyrium umfaßt: den um des Glaubens willen erlittenen Tod durch Menschenhand
sowie die Aufnahme in den Himmel durch göttliches Wirken. Die in der Reliquienverehrung sich manifestierende "zweifache Gegenwart des
Heiligen"(70), die Präsenz der anima am Throne Gottes sowie die auf der Erde
bis zum Jüngsten Gericht zurückgelassenen Gebeine, ist Bedingung der intercessio.
Sie scheint im Zuge der Gegenreformation neue Aufmerksamkeit erfahren zu haben: Die
Signifikanz von Märtyrerzyklen als Ausstattungsprogramm gerade römischer Kirchen konnte
die Forschung nicht nur belegen, sondern eine überragende Häufung der Darstellung für
das letzte Viertel des Cinquecento im Übergang zum Seicento feststellen.(71) In diesem
Kontext kommt der Stephanussteinigung nicht nur eine hervorgehobene Position zu, weil sie
das Protomartyrium bildet, sondern aufgrund der in exemplarischer Weise eingelösten
Imitatio Christi.(72) Die Darstellung von Elsheimer (Abb....) betont das physische Erleiden des Todes.
Verzweiflung und Qual wurden als die Referenzpunkte einer kodifizierten gestischen Sprache
erkannt. Im Sinne aristotelischer Poetik eine Prolepse, denn für die Augen des
Rezipienten kündigt sich bereits das Rettungsparadigma in Gestalt der geöffneten Himmel
an. Domenichino, und in seiner Nachfolge Antonio Carracci (Abb...5), zentrieren die
Darstellung auf die im Zuge des Gnadenstreits zwischen 1602 und 1607 erneut kontrovers
diskutierte Frage menschlicher Mitgestaltung an göttlich gewährter Gnade. Die im gestus
visuell ausgesprochene Zustimmung des Stephanus zur eigenen Imitatio Christi scheint, wie
oben analysiert, identisch zu sein mit der von jesuitischer Seite erhobenen Forderung nach
willentlicher Beteiligung des Menschen an seiner Errettung.(73) Annibale fokussiert seine beiden Bilder auf die individuell und universell
verstandene eschatologische Ausrichtung des Stephanusmartyriums. Sowohl in der Kupfer- als
auch in der Leinwandfassung (Abb... und ....) wird mit den Mitteln wirkungsästhetischer
Bildsprache die Verzückung ob göttlicher Offenbarung formuliert. Darüberhinaus
schildert die Kupferfassung in Gestus und Körperhaltung des Stephanus das Bittgebet für
die Peiniger.(74) Da dieses in Parallele zu den letzten Worten Christi steht,
unterstreicht Annibales Darstellung die Vorbildlichkeit der stephaneischen Imitatio
Christi, die sogar die verlangte Feindesliebe (Lk. 6,27-31) mit einschließt.(75) Die Wirkungsästhetik der Gestik bestimmt damit die Funktion des privaten
Andachtsbildes: Auch der historische Betrachter darf sich der Fürsprache des Heiligen
anvertrauen, denn das Kunstwerk macht gleichsam als antwortendes Gegenbild die göttliche
Teilhabe an dem Martyrium sichtbar. Was Stephanus daselbst rhetorisch vermitteln mußte,
gewinnt hier in der bildlichen Inszenierung von Gestik und Vision sinnenfällige Evidenz.
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